Das Wesen. Psychothriller
zwei Minuten, um die Kiste mit dem Aufdruck
K-L
unter einem Stapel anderer Kartons zu finden, eine weitere Minute benötigte ich, bis ich das orangefarbene Hängeregister in der Hand hielt, auf dessen Vorderseite der Name
Nicole Klement
stand. Als ich die Akte aufschlug, zitterte meine Hand. Wolfert stand dicht genug neben mir, um die beschriebenen Seiten sehen zu können, die zwischen den Pappteilen aufbewahrt waren. Bei dem obersten Dokument handelte es sich um die
Notiz zur Sitzung vom 12. Februar 1993 – Nicole Klement
Hypnotherapie – erste Sitzung. Mittels Hypnose wurden bei der Patientin Bewusstseinszustände erzeugt, die in der veränderten Selbst- und Außenwahrnehmung den dissoziativen Zuständen des posttraumatischen Erlebens ähnlich sind.
Die Patientin zeigte die dem Krankheitsbild in typischer Weise entsprechende erhöhte Suggestibilität und Hypnotisierbarkeit.
Durch Konfrontation mit dem traumatischen Material mittels kontrollierter Dissoziation hat die Patientin ein Gefühl der Kontrolle über Intrusionen und Entfremdungszustände erlangt.
»Oh Mann«, sagte ich, »das hört sich ja schlimm an, auch wenn ich kaum was davon verstehe.«
Die Seite war bis zum unteren Rand vollgeschrieben mit Lichners Notizen über Nicole Klements Hypnosesitzung. Immer wieder tauchte der Hinweis auf posttraumatische Erlebnisse auf, aber an keiner Stelle wurde beschrieben, was genau das für Erlebnisse waren. Ich gab die Seite an Wolfert weiter und sah mir das nächste Blatt an. Wieder eine Sitzung, allerdings im Mai, und es war von der zweiten Phase einer so genannten traumabearbeitenden Psychotherapiemethode die Rede, die im nächsten Abschnitt als EMDR -Methode bezeichnet wurde. Das nächste Blatt – eine weitere Sitzung, nun wieder im Februar. Die Seiten waren also nicht chronologisch geordnet.
Nach zwei weiteren Blättern mit für mich größtenteils unverständlichen Notizen über Therapiesitzungen fand ich endlich auf dem letzten Blatt, was ich suchte: die Beschreibung dessen, was Nicole Klements Behandlung nötig gemacht hatte. Und während ich las, was dort hinter Begriffen wie Syndrom und Pathogenese geschrieben stand, als ich erahnen konnte, was diese Frau als Kind erlebt hatte, hatte ich Mühe, gegen das Entsetzen anzukämpfen, das mich überkam.
32
18. Februar 1994
Wir fielen in Dr. Lichners Praxis ein wie ein Rollkommando. Corinna M. saß mit offenem Mund hinter ihrem Tresen und war angesichts der Mannschaft, die plötzlich im Eingangsbereich der Praxis auftauchte, augenscheinlich zu keiner Reaktion mehr fähig.
Die Kollegen verteilten sich sofort im ganzen Haus, während Menkhoff und ich mit zwei uniformierten Beamten den Bereich betraten, in dem sich die Behandlungszimmer und der Warteraum befanden. Menkhoff öffnete die Tür mit der Aufschrift
Behandlung 1
fast im gleichen Moment, in dem er flüchtig anklopfte. Dr. Lichner und seine Patientin, eine korpulente Frau Ende fünfzig, fuhren erschrocken auf, als wir den Raum regelrecht stürmten. »Keine Angst, wir sind Polizeibeamte«, sagte Menkhoff militärisch knapp zu der Patientin. »Verlassen Sie bitte den Raum.« Mir war alles andere als wohl zumute angesichts dieser Vorgehensweise. Nach der ersten Schrecksekunde stand im Gesicht der Frau deutlich geschrieben, dass sie es gar nicht erwarten konnte, rauszukommen, um von ihrem Abenteuer zu erzählen. Was auch immer bei unserer Durchsuchung herauskommen würde – die ernsthaften Probleme hatten soeben für Dr. Joachim Lichner begonnen. Der sonst so wortgewandte Mann schien erst zu realisieren, was gerade geschah, als seine Patientin ihm einen letzten, entrüsteten Blick zuwarf, bevor sie abrauschte.
»Was fällt Ihnen ein, hier einfach so hereinzuplatzen? Das lasse ich mir nicht …«
»Halten Sie den Mund, Dr. Lichner«, sagte Menkhoff und hielt ihm einen Faxausdruck entgegen. »Hier ist ein Durchsuchungsbeschluss, das Original wird gebracht. Führen Sie uns bitte in Ihre Garage.« Ein dünner Schweißfilm überzog meine Stirn.
»Ich habe das Recht, meinen Anwalt anzurufen. Darauf bestehe ich.« Man merkte, dass Lichner bemüht war, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. Menkhoff verdrehte die Augen. »Na los, dann machen Sie schon.«
Der Anruf dauerte nur eine knappe Minute: »Dr. Meyerfeld wird in fünfzehn Minuten hier sein«, erklärte Lichner.
Menkhoff nickte grimmig. »Schön. In der Zwischenzeit werden wir uns Ihre Garage ansehen.«
Zum ersten Mal, seit ich den
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