Das Wesen. Psychothriller
mein Partner es mir beschrieben hatte.
Nicht nur Menkhoff, auch Lichner sah uns mit ernster Miene entgegen, so dass ich eine ungefähre Vorstellung davon hatte, wie er auf die Eröffnung reagiert hatte, dass wir in seiner Wohnung gewesen waren.
Als wir den Tisch erreicht hatten, begrüßte Lichner uns auch entsprechend. »Na, was ist das für ein Gefühl, in den Privatsachen anderer Leute herumzuschnüffeln? Schon mal was von Durchsuchungsbefehlen gehört, Herr
Hauptkommissar
?«
Das Kribbeln auf meiner Stirn war so stark wie selten zuvor. Ich zog mir mit Schwung einen freien Stuhl vom Nachbartisch heran, setzte mich und warf das Register mit Nicole Klements Unterlagen vor ihn auf den kleinen Tisch. »Was ist es für ein Gefühl, sich als Psychiater mit einer Patientin einzulassen? Schon mal was von sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses gehört,
Herr Doktor
? Legen Sie also Ihre Arroganz schnell zur Seite, bevor ich kotzen muss.«
Menkhoff sah erst mich und dann Wolfert entgeistert an, in seinem Blick lag die stumme Frage, was mit mir los war.
Einen Moment lang war auch Lichner irritiert, doch dann schien er sich schon wieder gefangen zu haben. »Das war vor unserer Beziehung. Nicole –«
»Reden Sie keinen Scheiß, Dr. Lichner. Bei unseren Ermittlungen damals haben Sie ausgesagt, mit Nicole Clement seit zwei Jahren eine Beziehung zu haben. Das war 1994, diese Akten sind von 1993. Soll ich es Ihnen vorrechnen, oder schaffen Sie das allein? Zu diesem Straftatbestand kommt außerdem noch hinzu, dass Sie sensible Patientendaten offen in Ihrer Wohnung herumliegen haben, und das gleich kistenweise. Auch dafür können wir Sie drankriegen. Ich sage es Ihnen nur ein einziges Mal: Entweder Sie hören sofort auf, das superschlaue Arschloch zu spielen, und kooperieren, oder Sie landen wieder im Bau, das verspreche ich Ihnen.«
Lichner sagte erst einmal nichts mehr, Menkhoff starrte mich noch einige Sekunden lang an, dann zog er Nicole Klements Unterlagen zu sich herüber. Ich hätte mir gewünscht, ich hätte ihn unter vier Augen auf das vorbereiten können, was er dort lesen würde, aber das war nun leider nicht möglich. Das Blatt, auf dem diese Abscheulichkeiten in allen Einzelheiten beschrieben waren, lag obenauf, und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Menkhoff diese Seite herausnahm, wortlos aufstand und wegging. Er bog um die Ecke und entschwand unseren Blicken.
»Wann haben Sie Nicole Klement zum letzten Mal gesehen?«, wandte ich mich an Lichner.
»Das habe ich Ihrem Kollegen eben schon ausgiebig erzählt, während Sie meine Wohnung durchwühlt haben, und ich werde es bestimmt nicht noch einmal tun. Fragen Sie ihn.«
Ich wusste, ich würde ihn in diesem Moment nicht dazu bewegen können, mir zumindest die wichtigsten Fragen noch einmal zu beantworten. Wahrscheinlich würde ich ihm eine große Freude bereiten, wenn ich nachhakte und ihm so die Gelegenheit bot, mir eine erneute Abfuhr zu erteilen. Also schwiegen wir eine Zeitlang, bis Lichner unvermittelt sagte: »Es ist das Wesen, Herr Seifert.«
Ich sah ihn fragend an. »Was?«
»Das Wesen, Sie müssen das Wesen erkennen.«
»Haben Sie Drogen genommen?«, fragte Wolfert hinter mir, wodurch mir erst bewusst wurde, dass er noch immer stand.
»Setzen Sie sich doch bitte mal hin«, sagte ich zu ihm und wandte mich gleich wieder Lichner zu. »Das Wesen erkennen? Was meinen Sie damit?«
»Möchten Sie jetzt einen philosophischen Vortrag über die Definition des Wesens von mir haben?« Sein Gesicht nahm schon wieder unverschämte Züge an.
Stirnkribbeln.
»Ja, das möchte ich. Wenn Sie hier irgendwelche vermeintlich schlauen Dinge in die Gegend werfen, weil Ihr Selbstbewusstsein mal wieder einen Schwächeanfall hat – ja, dann müssen Sie mir das erklären, ansonsten halten Sie gefälligst Ihren Mund.«
Die Art, wie seine Augen mich fixierten, wie er einzuschätzen versuchte, was in meinem Kopf vor sich ging … 15 Jahre zuvor hatte er mich genau so angesehen. Und auch das Lächeln, zu dem sich sein Mund verzog, es war das gleiche wie damals. »Mit dem
Wesen
wird die beständige Eigenschaft bezeichnet, die alles – auch ein Mensch – zwingend haben muss, um existent zu sein, Herr Hauptkommissar. Im Gegensatz zum
Schein
beschreibt das Wesen das unverfälscht Wahre, das Ureigene einer Sache oder eines Individuums. Das wirkliche Wesen erschließt sich also nicht durch die Wahrnehmung mit unseren Sinnen, sondern nur
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