Das Wetter vor 15 Jahren
der war einfach so stark, weil er täglich im Fitnesscenter trainiert hat. Klimmzüge und so. Nichts! Da war Riemer noch trainierter. Der geht wenigstens zweimal die Woche ins neue Trainsporting in der Bochumer Straße. Aber Vittorio Kowalski, der ist ungefähr so sportlich wie ich! Also eigentlich unglaublich, wie der überhaupt die Wand hochgekommen ist.
Literaturbeilage Er war ja auch schon seit Tagen ohne Essen eingesperrt. Musste also doch extrem geschwächt sein!
Wolf Haas Ja, das kommt noch dazu. In dem Zustand klettert der, die Lampe am Kopf, den Sprengsatz am Gürtel wie seine Vorfahren den Filterselbstretter, die Wand hoch.
Literaturbeilage Das hat ja fast was von Spiderman.
Wolf Haas Das lässt sich schon alles noch irgendwie mit der Energie erklären, die aus der Todesangst kommt. Also die Wand. Aber dann der Überhang! Das ist für mich immer noch unerklärlich. Sieben Minuten vor dem Jawort klettert der in den Überhang hinein!
Literaturbeilage Sechs Minuten vor dem Jawort erinnert er sich an den Streit zwischen seinem Vater und Herrn Bonati, ob beim Überhangklettern die Kraft oder die Technik das Entscheidende sei.
Wolf Haas Das war eigentlich mehr die Diskussion seines Vaters. Der hat eben gern theoretisiert über die neuesten Entwicklungen, die neueste Ausrüstung, die neueste Klettertechnik. Und der Bonati hat nur herablassend gesagt: „Wenn der Herr Schmeuz nit wü, nutzt des goa cc nix."
Literaturbeilage Wie bitte?
Wolf Haas Ohne Schmalz geht gar nichts. „Schmalz" ist Kraft.
Literaturbeilage Jaja, so steht's ja auch im Buch. Ohne Schmalz geht gar nichts. Aber eben haben Sie das anders gesagt. Der Herr Schmalz?
Wolf Haas Ach. So hat er das eben manchmal gesagt. Sinnlospoesie sozusagen. Eine Paraphrase auf ein volkstümliches Lied. „Wenn der Herrgott nicht will, nützt das gar nichts", so geht das Lied. Das ist so eine WienerliedSchnulze. Und der Bonati hat eben, um die blasse Theorie seines Sommergastes Kowalski zu verspotten, aus dem „Herrgott" in einer kreativen Anwandlung den „Herrn Schmalz" gemacht.
Literaturbeilage Ohne den gar nichts geht. Verstehe. Der Bizeps als Herrgott.
Wolf Haas Bizeps als Herrgott - klingt schön lächerlich, aber in der Situation, in der Vittorio sich befand, war es ziemlich zutreffend.
Literaturbeilage Außer er hat's doch mit der Technik geschafft!
Wolf Haas Das wird man nie erfahren.
Literaturbeilage Hinter dieser Debatte der beiden Väter steckte im Grunde ein Theorie-Praxis-Problem.
Wolf Haas Die Technik-Schmalz-Debatte. Erinnert hat Vittorio sich an die Debatte zwar schon früher. Aber sechs Minuten vor dem Jawort hatte er plötzlich dieses Gefühl, dass ihm die beiden helfen. Also schon so ein Eso-Gefühl irgendwie, der Vater hilft ihm aus dem Grab heraus mit der Technik und Herr Bonati mit der Kraft sozusagen.
Literaturbeilage Das ist natürlich auch eine sehr versöhnliche Vorstellung ürgendwie. Wenn Herr Bonati ihm hilft, dann hat er ihm ja wohl auch vergeben. Und fünf Minuten vor dem Jawort macht Vittorio dann auch den entscheidenden Klimmzug.
Wolf Haas Ich hoffe, das liest sich nicht so dramatisch. Entscheidende Klimmzüge und so. Im Grunde war das nur ein zentimeterweises Vorrücken. Da ist in Wahrheit jeder Zentimeter entscheidend, also in dem Sinn, dass man nicht daneben greifen darf oder so, oder dass einen die Kraft nicht verlassen darf.
Literaturbeilage Mich hat am meisten beeindruckt, wie Sie die psychische Belastung beschrieben haben. Das hat mich an die Gefahr des Tiefenrauschs beim Tauchen erinnert.
Wolf Haas Tauchen tu ich nicht. Ich hab als Kind eine schwere Mittelohrentzündung gehabt.
Literaturbeilage Mittelohr, liegt da nicht auch ür-gendwie der Gleichgewichtssinn?
Wolf Haas Der Gleichgewichtssinn ist aber in Ordnung bei mir. Hören tu ich auch normal. Nur tauchen soll ich nicht.
Literaturbeilage Jedenfalls schreiben Sie, die größte Gefahr beim Überhangklettern liege nicht darin, dass einen die Kraft verlässt, sondern, Moment, hier steht: „Das Gefährliche beim Überhangklettern ist nicht, dass einen die Kraft in den Fingern verlässt. Die größte Gefahr liegt nicht in erlahmenden Armen, zitternden Knien, unerträglichen Wadenkrämpfen oder absterbenden Zehen. Das Gefährliche im Überhang ist, dass man anfängt, oben und unten zu verwechseln." Stimmt das würklich so?
Wolf Haas Für einen Moment erliegt man dem trügerischen Gefühl der Schwerelosigkeit. Und wie ein Autofahrer, der auf der
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