Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
mit dem letzten Transport nach Deutschland zu fliehen. Als Kazimieras nach Hause kam, beschossen sich am Himmel bereits die Flieger. Der Transport ging ohne ihn ab.
    Sowjetische Kampfflieger, die an der Schlacht bei Kybartai teilgenommen haben, berichteten später, daß sie den Befehl erhalten hatten, den Bahnhof von Eydtkuhnen und andere Eisenbahnknotenpunkte in Ostpreußen zu zerstören. Die Bombardierung des Bahnhofs Virbalis erwähnte kein einziger. Die Einwohner, die in der Stadt geblieben waren, verbargen sich in jener Nacht in ihren Kellern, also konnte keiner sehen, welches Schicksal den Bahnhof ereilte.
    Der imperiale Bahnhof Werschbolowo wurde in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Bahnhof der höchsten Kategorie auf russischen Befehl errichtet. Es war ein französisches Projekt, ausgeführt von Deutschen. In der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde er vermint und in die Luft gejagt – entweder von dem Deutschen Ehse oder von russischen Bombern, denen die Kampfflugzeuge der berühmten französischen Staffel Normandie-Njemen Begleitschutz gaben.
    Der Bahnhof existierte 83 Jahre lang. Ein sehr menschliches Alter.
    Die Postwerschbolowo-Epoche
    Die nach Kybartai vorgestoßenen sowjetischen Truppen fragten die Ortsansässigen, ob denn hier noch nicht Deutschland sei. Litauen hatte damals den Status einer von den Nazis okkupierten Sowjetrepublik, d.h. es handelte sich hier gewissermaßen um eigenes Staatsgebiet. Deutscher Boden begann gleich jenseits des Flüßchens Liepona, bei dessen Überquerung der letzte litauische Präsident sein Bein etwas benetzt hatte und den ich selbst beim Transport des Kupfers viele Jahre später sogar noch erfolgreicher überwand.
    Das Flüßchen ist schmal, doch das rettete die dahinter ansässigen Deutschen nicht. Eydtkuhnen war die erste deutsche Kleinstadt auf dem Weg der Roten Armee. Und dort entlud sich der ganze Zorn, der sich in dieser Armee im Laufe von drei Kriegsjahren angestaut hatte.
    Seit es den Bahnhof Werschbolowo gab, waren Kybartai und Eydtkuhnen so etwas wie Zwillingsstädte gewesen.
Deutsche Frauen aus Eydtkuhnen stellten sich morgens am Grenzübergang an, um vor den einheimischen Frauen auf dem Markt von Kybartai anzukommen. Die Litauerinnen gingen zum Einkaufen in die Geschäfte von Eydtkuhnen. Die europäische Mode kam zuerst nach Kybartai und verbreitete sich erst später in ganz Litauen und Rußland.
    Als die Front vorübergezogen war, kamen gespenstisch abgerissene und ausgehungerte deutsche Frauen mit genau so gespenstischen, verlausten Kindern heimlich nach Kybartai. Sie baten um Almosen und versuchten, ihre Kinder abzugeben. Die Leute von Kybartai wichen ihnen aus. Doch hin und wieder nahmen sie die Kinder zu sich. Aber nur größere, die in der Landwirtschaft arbeiten konnten.
    Als ein einfacher sowjetischer Soldat mit seinem Gewehr die Strohpuppe der Genovaitė durchbohrte, das Spielzeug als »faschistische Puppe« verfluchte und mitnahm, bekam das dreijährige Mädchen einen hysterischen Anfall. Der russische Soldat schenkte ihr einige Tage später als Entschuldigung eine schmucke Ballerinapuppe, zu jener Zeit eine Art Barbie. Und ihrer Mutter Anelė, der Frau des Weichenstellers Kazimieras, auch noch einen Satz Tischtücher mit der aufgestickten Jahreszahl »1904«. Als Anelė den Soldaten beschimpfte, er plündere die Häuser von Eydtkuhnen aus, erklärte ihr der verwirrte Russe, daß hinter der Liepona niemand mehr diese Sachen braucht.
    Dort war Feindesland, das vernichtet werden mußte. Sowjetische Soldaten verkauften sogar die Häuser und Brunnenkränze von Eydtkuhnen. Eine Flasche Schnaps für ein Haus in Eydtkuhnen – das war damals ein üblicher Preis. Die Häuser trug man ab und brachte sie nach Litauen.
    Der zerstörte Bahnhof Virbalis mußte ein weiteres Miß
verständnis über sich ergehen lassen. Nachdem er einhundert Jahre lang an der Grenze zu Deutschland gestanden und fälschlicherweise Werschbolowo geheißen hatte, obwohl er mit dem wirklichen Virbalis nichts zu tun hatte, wurde er nun ein weiteres Mal verwechselt. Die neuen sowjetischen Hausherren erhielten von ihren Vorgesetzten den Befehl, den stark zerstörten Bahnhof von Eydtkuhnen abzureißen. Statt dessen trugen sie den Bahnhof Virbalis ab. Es heißt, er sei eigentlich in einem gar nicht so schrecklichen Zustand gewesen, es hätte nicht allzu viel Mühe und guten Willens bedurft, ihn wieder instand zu setzen. Als die Vorgesetzten anreisten und begriffen, daß sie

Weitere Kostenlose Bücher