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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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einen Fehler gemacht hatten, schrien und gestikulierten sie wild herum, aber es war schon zu spät. Mit einem Teil der Mauern füllte man die Keller auf, einen Teil transportierte man ab; die Trümmer der einstigen Mauern aber lagen noch lange auf dem Gelände des Bahnhofs herum. Aus ihnen wurde später ein kleiner Bahnhof gebaut, an derselben Stelle. Man baute ihn sogar im alten Stil auf, aber die Dimensionen waren ganz andere.
    Als mein Großvater Bahnhofsvorsteher in Virbalis wurde, schrieb man schon das Jahr 1950. Der Bau des orangeroten Hauses begann 1956. Noch immer bediente man sich aus den Trümmern des alten Bahnhofs Werschbolowo. Väterchen trug mit seinem Bruder die Reste der Mauern ab, kratzte den Putz von den Steinen und verbaute sie dann. So löste sich das riesige zaristische »Werschbolowo« allmählich in den neuen Bauten des Städtchens auf. Und im Jahr 1965 verschwand auch sein Name. Das große Mißverständnis war zu Ende.
    Selbst heute wird man das Gefühl nicht los, daß Kybar
tai auf den Resten einer untergegangenen Zivilisation steht. Die heutige Zivilisation ist weder besser noch schlechter als die alte, sie ist einfach eine andere. Als jüngst das neue Zollamt gebaut wurde, stieß man auf die Keller des alten Bahnhofs von Werschbolowo. Gemauerte Tunnel führen weit weg, irgendwohin, hinter die Grenze, wo früher Ostpreußen war und heute das Kaliningrader Gebiet liegt. Es ist unklar, wozu sie benötigt wurden: für Schmuggel oder Spionage oder etwas anderes. Es war eine geheimnisvolle Zivilisation. Und die gewöhnliche Welt des einstigen Werschbolowo erweckt heute den Anschein, als stehe sie kopf. Einst endete hier Rußland, und hinter dem Flüßchen begann das Ausland. Nun ist hier das Ausland, und hinter dem kleinen Fluß beginnt Rußland.
    Aber aus dieser alten Zivilisation, die über die ganze Welt verstreut wurde, kommt manchmal jemand zurück. So hielt vor zehn Jahren an Gražinas Hoftür ein Auto, eine Jüdin aus Chicago stieg aus und fragte, ob sie barfuß über den Hof laufen dürfe. Sie durchquerte den Hof und sagte, jetzt sei sie wirklich noch einmal in ihrer Heimat gewesen. Sie war in der Zwischenkriegszeit in diesem Hof aufgewachsen. Ihr Vater war Leiter des Elektrizitätswerks des Bahnhofs von Virbalis gewesen. Sie gab Gražina zwanzig Dollar und fuhr wieder fort.
    Nach dem Krieg war Gražinas Mann Jurgis der Chef des Elektrizitätswerks. Mein Väterchen liebte es, ihn dort abends zu besuchen. Baba kam dann durch einige Höfe gelaufen und jagte ihn nach Hause. Als meine Eltern heirateten, verbrachten sie die Hochzeitsnacht im Elektrizitätswerk. Am anderen Morgen stiegen die Hochzeitsgäste durchs Fenster ein und wollten den Brautschleier stehlen.
Mama war böse, weil sie die örtlichen Bräuche nicht kannte.
    Wie meine Großeltern, so liegt auch Jurgis längst auf dem Friedhof. Gražina lebt jetzt mit Antanas zusammen. Und sieht weiter nach dem alten Elektrizitätswerk aus der Zarenzeit – dem wohl letzten Relikt des Bahnhofs Werschbolowo.
    Die Zarenwanne aber wurde gestohlen. Sie stand im Hof, und die Bewohner waren gerade nicht zu Hause. Sie kamen nachts und schleppten sie weg. Die Reifenspuren sind noch sichtbar. Es muß ein großes Fahrzeug gewesen sein. Vielleicht sogar ein Laster.
    Die Sehnsucht
    Die Leute von Kybartai, die einige Jahrhunderte lang an der Grenze zu Deutschland lebten, unter ortsansässigen Deutschen und manchmal auch unter deutscher Herrschaft, haben eine Redewendung. Wenn es irgendwo an Ordnung mangelt, sagen sie: »Ein krummer Preuße muß her.« Denn ein gerader Preuße ist ein deutscher Soldat, ein krummer ist ein Zivilist. »Ein krummer Preuße« hat seinen nationalen und politischen Sinn verloren und steht heute nur noch für Ordnung. Das Städtchen wirkt jetzt erschöpft, und den krummen Preußen suchen die Leute von Kybartai unter den litauischen Städtern.
    Die Jugend geht nach Irland oder Großbritannien, um Geld zu verdienen.
    Andere leben auch weiterhin »von der Grenze«. Heute ist Benzin das wichtigste Schmuggelgut. Im Kaliningrader
Gebiet ist es viel billiger. Legal darf man mit einem voll getankten Auto über die Grenze fahren. Wenn jedoch die Zöllner am Geschäft beteiligt werden, dann kann es schon klappen mit ein bißchen mehr Benzin. Nur muß man dafür einen halben Tag Schlange stehen, überall buckeln und jedem etwas zahlen, der eine Uniform trägt. Das Los der Schmuggler ist schwer.
    Die Vielzahl von Religionen und Konfessionen

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