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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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vor dem Krieg stellt sich allmählich wieder ein, nur in neuer Gestalt. Juden gibt es in Kybartai keine mehr. Und auch keine deutschen Lutheraner oder Reformierte, die letzten Orthodoxen sterben aus. Die einzige Kirche, die etwas ernsthafter besucht wird, ist die katholische. Aber es entstehen neue: die neuapostolische und die methodistische. Die mißtrauischen Einwohner von Kybartai meinen, daß der deutsche, britische und amerikanische Geheimdienst in dieser Maskierung in die Stadt eindringen. Die alte russische Kirche, die alle Kriege überstanden hat, steht leer. Der orthodoxe Pope aus Klaipėda kommt nur noch herüber, wenn es eine Beerdigung gibt. Im Hof der orthodoxen Kirche läuft ein Boxer herum. Die Kirche wird vom ehemaligen Gefängnisdirektor von Kybartai bewacht. Dies ist das Nest eines weiteren Geheimdiensts, des russischen, glauben die Stadtbewohner.
    Für einen Außenstehenden klingt das alles recht naiv, für die seit Jahrhunderten im Grenzgebiet lebenden Leute von Kybartai aber sind die verschiedenen Geheimdienste offenbar genau so normal und alltäglich wie Brot und Salz. Es heißt, der Wasserturm, der im Zuge des Bahnhofsbaus von Werschbolowo errichtet wurde und an dem die Dampfloks ihren Wasservorrat auffüllten, sei für seinen Zweck ei
gentlich viel zu hoch, er müsse wohl noch eine andere Funktion gehabt haben, Spionage nämlich. Als die Eisenbahner vor einigen Jahren das neue Zollgelände herrichteten, fanden sie neben dem existierenden Wasserturm das Fundament eines zweiten, viel größeren. Vielleicht stand ja eben dort jener andere Turm mit der doppelten Bestimmung.
    Die alte Werschbolowo-Zivilisation lebt in Kybartai auch in den Namen weiter. Direkt an der Grenze zum Kaliningrader Gebiet steht ein klotziges Mietshaus vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Alle nennen es Paris. Ein anderes, das näher am Bahnhof liegt, heißt Berlin. Die Leute von Kybartai reden auch so: »Ich wohne in Paris« oder »ich gehe nach Berlin«. Vom örtlichen Paris über das örtliche Berlin bis zum Bahnhof sind es nur wenige Minuten zu Fuß. Man läuft diese Strecke und fühlt sich, als sei man soeben mit dem berühmten Nord-Ost-Expreß angekommen.
    Nördlich des Bahnhofs, dort wo früher der Park mit dem Blasorchester war, befindet sich heute ein Eisenbetonwerk. Dahinter liegt Užgelžkelis, auf deutsch so etwas wie »Hintergleis«. Das ist mein Stadtteil. Die Leute von Užgelžkelis hielt man in Kybartai schon immer für Menschen zweiter Klasse. Vielleicht weil sie auf dem Weg ins Stadtzentrum unter den hier abgestellten Eisenbahnwaggons hindurchkriechen mußten. Dafür steht dort jetzt eine Brücke, die hoch über dem Bahnhof aufragt. Man geht auf ihr und fühlt sich wie ein Mensch erster Klasse.
    Unsere Straße heißt jetzt »Darius-und-Girėnas-Straße«, nach den beiden litauischen Piloten, die in der Zwischenkriegszeit auf dem Transatlantikflug verunglückt sind. Auch ich betrete, wie jene alte Jüdin aus Chicago, den Hof meiner
Großeltern. Der Hof hat sich kaum verändert. Neben dem alten Gewächshaus meines Großvaters stehen zwei weitere – in allen wachsen Blumen. Für die neuen Hausbewohner ist die Blumenzucht nicht mehr nur ein Hobby, sondern auch ein Geschäft. Auf dem Zaun ist Stacheldraht. Der Hausherr beklagt sich, daß ortsansässige Gauner über den Zaun klettern und Metall stehlen. Er hat zur Abschreckung sogar eine Alarmanlage angebracht: ein elektronischer Mechanismus, der auf die kleinste Bewegung reagiert und das Gebell eines großen Hundes auslöst. Es ist nur eine Tonbandaufzeichnung. Der Hausherr hat lange nach einem Hund mit dem passendem Timbre gesucht. Er entschied sich für einen Bernhardiner.
    Ich trete ins Haus. Im Obergeschoß ist dasselbe Klappbett an der Wand. Dasselbe Zimmerchen zur Straße, in dem ich einst schlief. Im Eßzimmer, wo wir Babas spezielle Brühe mit Nudeln, Koteletts und das Dessert mit gebackenen Äpfeln gemampft haben, wirkt alles ungewohnt klein. Ich fragte sogar nach, ob hier nicht etwas umgebaut wurde. Nein, es sei nichts umgebaut worden, rechtfertigten sich die Bewohner, als gehöre ihnen das Haus nicht. Sie führten mich sogar zur Toilette und zeigten mir unseren alten Wasserkessel, der, wenn man am Seil zieht, das Wasser fließen läßt und alles fortspült. Das Klosett haben sie ersetzt, aber den Kessel behalten.
    Ich bedanke mich und verlasse das Haus. Ich habe ein seltsames Ritual vollzogen. Nun kann auch ich meinen bescheidenen Anteil zur

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