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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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allgemeinen Werschbolowo-Nostalgie beisteuern. Auch für mich ist es bereits verlorener Boden. Was sind wir doch sentimental.
    Aber die hiesigen Eisenbahner sagen, bald würde hier
wieder der Zug Petersburg–Berlin durchfahren. Und vielleicht reimt dann wieder jemand nostalgisch:
    Wenn ich sie einmal wiedersehen sollte
    Die Gepäckträger, die Aufschrift Werschbolowo …
     
    Doch nein, so wird wohl nie wieder gedichtet werden. Denn alles wiederholt sich, nur nicht die Zeit.
     
    Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig

Wojciech Kuczok
    Wie wir den Kommunismus nicht abschafften
    N ach dem dreizehnten Dezember wurde mein Vater von Verwünschungen gebeutelt, die nie in Erfüllung gehen sollten, und er dachte sich jeden Tag die verschiedensten, nie realisierten Formen von Protest gegen das System aus, als wollte er sich vor uns rechtfertigen, daß es niemandem in den Sinn gekommen war, ihn zu internieren. Als der Kriegszustand banaler Alltag geworden war, beschloß Vater, mein Schuljahr zu verkürzen. Zwar nahm er mich nicht aus der Schule, hieß das Schwänzen nicht gut und achtete streng auf meine Fortschritte beim Lernen, aber er ordnete an, ich solle alle offiziellen Feierlichkeiten konsequent meiden, weil, wie er behauptete, jeder Anlaß dieser Art ein glänzendes Betätigungsfeld für Indoktrinatoren sei, weil alle Festveranstaltungen, Appelle, Eröffnungen und Abschlußfeiern dazu dienten, der Jugend den Kopf zu verdrehen mit diesem, wie er sagte, Gefasel, Geschwätz und Sprechdurchfall, die unbestrittenen Vorzüge des Sozialismus betreffend (Vater konnte seine Zunge nie im Zaum halten, wenn er über das Regime redete; Mutter war sauer, daß er so fluchte, nicht nur beim Frühstück, sondern auch vor dem Kind, aber er behauptete, eine vulgäre Wirklichkeit könne man nur mit einem
vulgären Wortschatz beschreiben). Als die Noten feststanden und die Zeit der Vertretungen, des verkürzten Unterrichts und der Ausflüge zum Denkmal der Rotarmisten begann, war mein Vater der Meinung, auf die Ausgabe der Zeugnisse müsse ich nicht warten.
    »Es reicht, mein Sohn, diese roten Socken bringen dir jetzt nichts mehr bei, wir fahren in Urlaub.«
    Die Gefahr, daß sich meine Note in Betragen verschlechtern könnte, ignorierte er, in einem unterdrückten, besetzten Land, sagte er, das sich zudem seit einem halben Jahr in einem Zustand außergewöhnlicher Ratlosigkeit befinde, gehöre es sich nicht, eine gute Note in Betragen zu haben, gute Noten in Betragen hätten nur künftige Konformisten; im künftigen freien Polen, das er nicht erleben werde, aber ich und mit Sicherheit meine Kinder, würden sich die Leute bestimmt nicht mit positiven Zensuren für Betragen rühmen, die sie in Zeiten des Terrors, der Lüge und Verachtung erhalten hätten etc. Vater verfiel um so leichter in seine antikommunistische Suada, je heftiger die ordinäre Alltäglichkeit die Menschen erfaßte, die sich langsam, aber unvermeidlich an das neue Stadium der Trostlosigkeit und den Mangel an Perspektive gewöhnten. Je stiller die Leute wurden, um so verbissener quatschte er, je mehr alle sich abfanden und abstumpften, desto wütender drohte er mit der Faust, hetzte und rief zum Kampf auf, natürlich nur hinter der verschlossenen Tür seines Hauses, nur uns galt das, den Hausbewohnern, vor allem mir, der ich soeben die dritte Klasse der Grundschule absolvierte, mit beschämend guten Ergebnissen (er lobte mich ohne Enthusiasmus, als bedauerte er, daß ich nicht am illegalen Unterricht teilnahm, keine Schüleropposition gründete, sondern meine Lese- und
Schreibkenntnisse an Texten vervollkommnete, die das kommunistische Bildungsministerium ausgesucht hatte) – nur uns rief er zum Widerstand auf, mich und meine Mutter, die von Berufs wegen die Pflichten der Hausfrau erfüllte.
    Der Kampfgeist in unserem Haus hatte also keine Chance zu erlahmen, Vater zeigte mir bis zum Abwinken die Waffenexemplare, die er nicht abgegeben hatte, als es befohlen worden war – stolz auf seinen Ungehorsam und sich darauf berufend als Beispiel für seine Zivilcourage, dabei handelte es sich nur um den Bergarbeitersäbel des Großvaters und eine Schrotflinte für den Sportgebrauch. Er tätschelte, staubte ab und polierte mit einem Lappen auf Hochglanz – und wir hatten von der Existenz dieses Säbels und dieser Pistole keine Ahnung gehabt, lagen sie doch jahrelang zwischen irgendwelchem Gerümpel im Keller herum; an den Säbel des Großvaters konnte sich Vater ja noch

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