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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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erinnern, die Auffindung der Schrotpistole dagegen, die er seit der Zeit seiner Jugendspiele nicht benutzt hatte, war ein Ereignis von historischem Rang: Das war wahrhaft illegale Passivität, das konnte man geradezu als umstürzlerische Unterlassung verstehen; ohne aus dem Haus zu gehen, ja, ohne die Fenster zu öffnen oder die Vorhänge aufzuziehen, wurde Vater zum Verschwörer, zwar waren von dem Schrot nur leere Schächtelchen übrig und mit dieser Vogelscheuche hätten wir unter keinen Umständen einen Aufstand gewonnen, aber Vater behauptete hartnäckig, diese Waffe habe symbolische Kraft, hier gehe es nicht um Patronen, hier gehe es um die Idee, und ich sei zu jung, um das zu verstehen.
    Anfang Juni kehrte ins Volk leichte Bewegung, Erregung, Erwartung ein, plötzlich reckten alle den Hals, als hätten sie hinter den Hügeln ein Trompetenecho vernommen, doch da
war noch nicht die Erhebung des knienden Volkes und das gemeinsame Verprügeln des Feindes zu ahnen, da wurde keine neue Welle von Streiks und Manifestationen vorbereitet, obwohl sie vielleicht sogar vorbereitet wurde, man vielleicht ja solide kämpfen wollte, doch die sogenannte Mehrheit der Gesellschaft war aus ganz anderen Gründen innerlich am Zittern und Flattern, in jenen Tagen bildete sich eine andere Gemeinschaft, die ein neues nationales Dilemma erörterte: Jeden Moment sollte die Fußballweltmeisterschaft beginnen, Polen würde teilnehmen – sollte man zuschauen und anfeuern oder nicht? Wen würde der Kader in Spanien repräsentieren: die Unterdrücker oder die Unterdrückten? Die tüchtigsten, ausdauerndsten und verbissensten Antikommunisten, die Radio, Fernsehen, Theater, Kino und die öffentlichen Verkehrsmittel boykottierten (weil die Busse rot waren), diejenigen, die schon lange ihre Fernsehgeräte aus der Wohnung geschafft hatten, verspürten plötzlich Trauer, und je näher die Eröffnung der Weltmeisterschaft rückte, desto lauter seufzten sie, zerrissen zwischen eiserner Konsequenz und der Leidenschaft des Fans. Vater war seinen Fernseher kurz nach dem Teletubbie-Auftritt des Generals losgeworden, und jetzt, angesichts der näher rückenden WM , verspürte er zum ersten Mal Bedauern, ja sogar Panik, denn wie sollte man hier nicht emotional werden, wie konnte man der Möglichkeit entsagen, Zeuge dessen zu werden, was da kommen würde: Unsere Jungs, oder wie man in Schlesien sagte, die »Poloki«, fuhren los, um die WM zu gewinnen, das heißt, Weltmeister zu werden; der Trainer aus Chorzów sollte die Nationalmannschaft an die Spitze bringen, diesmal ganz sicher, aller guten Dinge sind drei; was Górski und Gmoch fast gelungen wäre, sollte jetzt un
ser Bub, unser Antoś aus Hajduki erreichen. Mein Vater, der für gutnachbarschaftliche Beziehungen noch nie berühmt war, hätte also keinen Ort, wo er die WM anschauen könnte, daher mußte auch ich damit rechnen, von dieser ersten Veranstaltung, die ich mit Spannung erwartete, nur kümmerliche Berichte aus einem gestörten Radiosender zu erhalten, dem einzigen, den Vater tolerierte; das waren keine rosigen Aussichten, und ich dachte sogar schon daran, wie ich es anstellen könnte, mich zu Fußballabenden bei Kumpeln einzuladen, deren Alte zwar ihre Schwarzweißfernseher losgeworden waren, aber nur, um sich neue Farbfernseher zu kaufen; ich begann mich sogar schon einzuschleimen in den Pausen, indem ich quasi uneigennützig Bobofrut-Säfte anbot, bibliophile Ausgaben der Goldenen Tiger auslieh, die ich nicht zurückwollte, scheinbar unüberlegte Tauschaktionen von Sammelobjekten vorschlug, die wertvollsten Plastikfigürchen polnischer Könige und Fürsten gegen diejenigen tauschte, die am leichtesten zu bekommen waren, ja, ich war sogar bereit, den Propeller an meiner eigenhändig zusammengeleimten Spitfire abzureißen und ihn einem Kumpel zu schenken, dem das Ding beim weihnachtlichen Aufräumen kaputtgegangen war – die Bandbreite der Opfer, die ich zu bringen fähig gewesen wäre, nur um zu sehen, wie unsere Jungs bei der Weltmeisterschaft spielen, schien keine Grenzen zu haben.
    Italien-Polen-Peru-Kamerun, diese Zauberformel klang in meiner Birne wie ein Mantra, diese Reihenfolge, diese Gruppe hatten wir gezogen, und von der »Welt der Jugend« bis zur »Flagge der Jugend«, vom Meer bis zum Meerauge, quer durch das ganze Land wurde diese Phrase wiederholt, dieser einfallsreiche Vierzeiler, dieses syllabotonische Mei
sterwerk, dieses Haiku, das Emotionen versprach, die wohl nur mit

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