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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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dem Öffnen eines versiegelten Pakets aus dem Reich zu vergleichen waren – ich stellte mir die Leiden gar nicht erst vor, die mir das Nicht-Anschauen dieser Weltmeisterschaft bereiten würde, ich wollte gar nicht an die Qualen denken, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ich ihnen entgehen konnte – so wie der Mensch nicht an den Tod denkt, obwohl er weiß, daß er ihn unausweichlich erwartet; der Gedanke an den unausweichlichen Tod konnte mich bei weitem nicht so schrecken wie der Gedanke an die versäumten Übertragungen, an all die Spiele, die ich nicht sehen würde.
    Als mein Vater verkündete, wir würden früher in die Ferien fahren, erreichte die Verzweiflung zunächst ihren Höhepunkt, denn alle Einschleimpläne wären für die Katz, ich würde weit weg sein von den Kumpeln und ihren »Rubinen« mit der heiseren Stimme von Ciszewski, und als sich dann herausstellte, wir würden in ein Dorf in den Bergen fahren, wanderten meine Gedanken, da ich das Dorf bisher nur aus der Schullektüre kannte, hin zu barfüßigen Schweinehirten, zu strohgedeckten Hühnerställen, zu Tennen und Ofenbänken. Die Hoffnung, daß sie dort auf dem Land einen Fernseher haben könnten, ja, daß sie überhaupt etwas von Gruppensport wissen, war äußerst gering, es sah danach aus, als würden wir uns definitiv von der Zivilisation verabschieden, und ich würde nicht einmal die trockenen Ergebnisse in mein Heftchen eintragen können, denn auf dem Land würde es todsicher nicht einmal Zeitungen geben, wer würde denn da schon lesen können unter diesen Ziegenmelkern, Musikanten und Anielkas.
    Wir fuhren am Tag der Eröffnung; unsere Jungs waren
zwar noch nicht dabei, aber schon sollten die alten Meister jenseits des Ozeans ihre Klasse beweisen, schon wurde darüber geschrieben und gesprochen, schon wurde gewartet, als wir den Weg nach Zakopane zurücklegten mit unserem alten, hier und da rostenden Fiat, der unter dem elfenbeinfarbenen Lack seine Narben versteckte (denn das eigentliche, das reine Weiß war in Volkspolen nicht zu bekommen, die Industrie war nicht imstande, Autolack in reinem Weiß zu produzieren, als hätte ein Fluch über den Fabriken gehangen, ein Makel, weiß der Geier, wolltest du ein weißes Auto, bekamst du direkt aus dem Polmozbyt ein nagelneues in Elfenbein – eine moderne Farbe, moderner als Weiß, Weiß wäre zu provokativ gewesen in diesem ewig getrübten, angegrauten, deprimierten Land, reines Weiß hätte ins Auge stechen können, daher wurde Altweiß angeboten, ästhetischer und weltmännischer auch Elfenbein genannt).
    »Schau dir die Aussicht an, guck hin, hoch mit dem Kopf!«
    »Guck, na schau doch, siehst du, wie schön!«
    »Du sollst nicht lesen, was hast du da, du verdirbst dir die Augen, guck aus dem Fenster!«
    »Dir wird mal wieder schlecht, laß das mit dem Lesen und schau, wie schön es ist!«
    »Was für eine Natur! Wunderbar!«
    »Das ist eine Gegend! Atemberaubend!«
    Sie hatten natürlich recht, denn sobald wir uns die Serpentinen hochschraubten, schimmerte die Tatra durch die Wolken, und obwohl die Eltern erst vor Nowy Targ imstande waren, die Bergkämme von den Wolken zu unterscheiden, öffnete sich der Raum vor uns, und es war keine Kunst, sich für ihn zu begeistern, denn wie dem auch sei – im All
tag schrumpfte der Raum um uns her immer mehr, vor allem in dieser Situation ungewöhnlicher Ratlosigkeit, die über dem Land hing, wo Lebensmittel und Kleidung reglementiert waren, Telefongespräche kontrolliert wurden und abends Sperrstunde herrschte. An den offenen und grenzenlosen Raum konnte man sich nicht so einfach gewöhnen, Vater mußte das Auto anhalten, weil ihm schwindlig wurde, Mutter versuchte ihren Anfall von Agoraphobie durch Entzücken zu verdrängen, sie traten vors Auto, ergötzten sich und atmeten tief, und ich saß reglos auf dem Rücksitz, den »Schatz des Zuschauers« in der Hand, und zählte die Minuten bis zu dem verhängnisvollen Moment, denn das Eröffnungsspiel kam ebenso schnell näher, wie wir uns von der einzigen mir bekannten, städtischen Zivilisation entfernten. Ich heulte vor Ohnmacht: Wären die verfluchten Uniformierten nicht gewesen, hätte Vater den Fernseher nicht weggebracht; von den Eltern gefragt, warum ich es nicht genieße und die gute Luft einatme, sondern rumheule, antwortete ich, das kommt von den verfluchten Uniformierten, vom Kriegszustand, von dem blöden Kommunismus etc.; mein Vater war verblüfft, und in das Erstaunen schlich sich Stolz,

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