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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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daß so plötzlich und emotional der Antikommunist in mir erwachte; er streichelte und tröstete mich:
    »Mach dir keine Sorgen, uns betrifft das nicht, wir haben Ferien. Außerdem beginnt die WM , freust du dich nicht? Wir werden uns die Spiele anschauen, unsere Jungs anfeuern …«
    Wie denn das, auf dem Land, da gibt's weder Wasserleitungen noch Strom, da hustet in der Bierstube der Antek, da fressen sie den Sauerampfer roh, direkt von der Wiese, heilen die Schwindsucht mit Ave-Marias; wie groß war mein
Erstaunen, meine Ungläubigkeit, als ich fragte, wo wir denn die Spiele anschauen könnten.
    »Was heißt wo? Was denkst du denn, mein Sohn, warum ich dich früher von der Schule genommen habe? Warum ich uns gerade ab heute Urlaub verordnet habe? Denkst du, dein Vater ist auf den Kopf gefallen? Ich hab den Gastwirt gefragt, er hat geschworen, es gibt einen Fernseher, wenn er auch manchmal ein bißchen schneit, bei Föhn … Ich bin ein konsequenter Mensch, mein Sohn, und wenn ich etwas sage, bleibt es dabei. Ich hab gesagt, solange diese Arschlöcher in Uniform, diese Tumanowiczs und anderes Geschmeiß uns einlullen, wirst du in unserem Haus keinen Fernseher finden! Aber unsere Jungs muß man schließlich anfeuern, wie könnte man sich einfach von ihnen abwenden, was hat denn Fußball mit Politik zu tun? Wir fahren in die Ferien zum Bergbauern, abends schauen wir die WM , und tagsüber atmen wir die gesunde Luft, umgeben uns mit schönen Aussichten, machen Spaziergänge und so weiter, und ich sag dir, mein Sohn, die Ferien werden dauern, solange unsere Jungs spielen, solange Polen nicht raus ist …«
    »Solange wir leben«, fügte Mutter hinzu, die den Dingen von größter Fußballbedeutung wie immer trotzig distanziert gegenüberstand.
     
    Die ersten Spiele der Polen, als unsere Jungs Italien und dann Kamerun abtasteten, waren farblos: keine Poesie, keine technischen Kunststückchen, keine verrückten Sturmangriffe; Ohnmacht, Blockade, ansteckend übrigens, denn die Rivalen quälten sich genauso mit uns ab, wie wir von ihnen gequält wurden; die ersten Spiele der Nationalmann
schaft verliefen unter dem Zeichen des Quälenden und Gequälten Polen. Mein Vater, der sich diesen Kampf aufgrund einer neu definierten patriotischen Pflicht ansah, war der Meinung, das sei eine symbolische Haltung – unsere Jungs spielten Trauerfußball zum Zeichen des Protestes gegen den Zustand des Zerfalls und der großen Trostlosigkeit, die das Vaterland knechteten, den Rivalen dagegen blieb nichts anderes übrig, als mit diesem Trauerzug Schritt zu halten. Als die Polen im Viertelfinale die Belgier vernichtend geschlagen hatten, begann mein Vater gegen Ende der zweiten Ferienwoche heimlich zu beten, daß unsere Jungs ehrenhaft rausfliegen mögen, denn wenn sie es ins Halbfinale schaffen würden, wäre er geschafft und würde ins Gras beißen, er konnte alkoholtechnisch nicht mithalten, und sich herauszureden und an weiteren Trinkgelagen der Bergbauern nicht teilzunehmen gehörte sich nicht; Mutter klagte, rang die Hände, wollte nach Hause, Vater beharrte darauf, diese Góralen würden für immer die Achtung vor ihm verlieren, wenn sie eine Schwäche in ihm witterten; seine Leber schwoll von Tag zu Tag, sein Blick wurde trüb, sein Schweiß sauer, sein Atem nervös und stinkend, aber er machte gute Miene zum bösen Spiel und sagte, es gehöre zum guten Ton, sich der Volkstradition nicht entgegenzustellen, die hiesigen Bräuche mitzumachen, mit den Wölfen zu heulen etc. Auf der Suche nach Rechtfertigungen für seine Abwesenheit begann er zu Gipfelausflügen aufzubrechen und verfluchte die Hindernisse, die jeden Bewohner des in diesem abweichenden, in diesem Ausnahmezustand befindlichen Volkspolens im Grenzgebiet erwarteten; sehnsüchtig blickte er zu den slowakischen Gipfeln, erinnerte sich an die Zeiten touristischer Tradition und benutzte alte Karten, auf de
nen die Grenze nur als dickerer Strich die Gebirgszüge durchlief (auf den neuen hörte die Welt an der Grenze auf, der dort verlaufende Rücken der Tatra war der Rand des Nichts, die neuesten topographischen Karten waren erschreckend leer, da gab es keine Beler Tatra, weder die Lomnitzer noch die Eistaler oder die Gerlsdorfer Spitze, es gab weder den Smokovec noch den Tschirmer See, nicht die Rohac-Gipfel noch den Osobita – hinter der südlichen Grenze gab es nach dieser differenzierten Karte gar nichts, einen weißen Fleck, Antimaterie, die Tatra war also Ultima Thule;

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