Das Winterhaus
sie lange nicht gesehen.«
»Ich auch nicht.« Francis trank einen Schluck Whisky.
»Ist sie verreist?«
»Ich hab keinen Schimmer«, antwortete Francis desinteressiert. »Wahrscheinlich nicht.« Er rauchte und trank, ohne Joe anzusehen, und starrte mit glasigem Blick auf die Reihen von Flaschen hinter dem Tresen.
Männer hoben ihre Krüge, um sie auffüllen zu lassen. Nachdem Joe einige von ihnen bedient hatte, hakte er nach. »Habt ihr euch gestritten?«
»Hat wer gestritten?«
Er wußte, daß Francis bewußt den Begriffsstutzigen spielte. Dennoch sagte er ruhig: »Du und Robin.«
»Eine kleine Meinungsverschiedenheit.«
»Wann?«
»Auf der Hochzeit. Ich – äh – hatte ein bißchen zuviel getrunken.« Francis lächelte und sah Joe an. »Mach nicht so ein entrüstetes Gesicht. Ist doch völlig egal. Die kommt angerannt, sobald ich mit den Fingern schnippe. Wie ein braves Hündchen.«
Ohne zu überlegen, schlug er zu. Seine Faust traf Francis am Kinn und schleuderte ihn nach rückwärts. Das Whiskyglas fiel um. Dann sprang er über den Tresen, zog Francis vom Boden hoch und schlug wieder zu. Der Ausdruck verständnisloser Verblüffung in Francis' Gesicht war ihm eine Genugtuung, aber Francis wehrte sich nicht. Und Joe wollte, daß er sich wehrte.
Um sie herum wichen die Männer zurück. Joe, der Francis wieder auf die Füße gerissen hatte, flüsterte ihm etwas ins Ohr. Francis' bleiches Gesicht lief rot an vor Wut. Er schwang die Faust und schlug Joe in den Magen. Joe drängte ihn in die Menge zurück und holte von neuem aus. Er sah mit einer Art gehässiger Freude, daß Francis schwer betrunken war. Seine Schläge trafen selten, wogegen Joes mit sichtlicher Wirkung ihr Ziel fanden. Andere begannen jetzt mitzumischen: Flaschen, Gläser, Barhocker flogen durch die Luft. Joe hörte nicht auf, Francis zu bearbeiten, bis der Wirt, ein massiger Mann mit muskelbepackten Armen, sich durch das Gewühl drängte und die beiden jungen Männer voneinander trennte. Er sagte leise zu Joe: »Ich weiß nicht, worum's geht, Freundchen, ich kann nur hoffen, es hat sich gelohnt, dafür die Arbeit zu verlieren.« Mit einem Schlag nüchtern, senkte Joe die Fäuste.
Außerdem war Francis gar nicht mehr fähig zu kämpfen. Er hing hustend und würgend am Tresen, Blut im Gesicht, das aus einer Wunde über seinem Auge strömte. Das Pub hatte sich plötzlich geleert, nur ein paar alte Saufbrüder saßen noch über ihren Gläsern. Der Boden war voller Glasscherben.
Zurück in der Wohnung, packte Joe seine wenigen Sachen und ging. Die Schlüssel warf er auf den Küchentisch. Der kalte Winterwind blies die letzten Reste seines Zorns davon. Er fühlte sich todmüde und kaputt, und als er sich mit raschem Schritt von dem Haus entfernte, in dem er die letzten fünf Jahre seines Lebens verbracht hatte, ging ihm langsam die Tragweite dessen auf, was er getan hatte. Er hatte seine Arbeit – seine einzige Einkommensquelle – zu einem Zeitpunkt weggeworfen, da es von Tag zu Tag schwieriger wurde, Arbeit zu finden. Er hatte in dieser kältesten Zeit des Jahres kein Dach über dem Kopf. Er hatte – Joe griff in seine Tasche – ein Barvermögen von zwei Pfund, drei Shilling und sieben Pence. Er wußte, daß es keinen Sinn hatte, den Wirt des Navigator um den Lohn der letzten Woche zu bitten – davon würden die Schäden im Lokal bezahlt werden. Als Teilzeitarbeiter hatte er kein Anrecht auf Arbeitslosenunterstützung; außerdem war er ja durch eigenes Verschulden entlassen worden. Da hatte er keine Unterstützung zu erwarten.
Am meisten beschäftigte ihn die Frage, warum er Francis geschlagen hatte – er, der sein Temperament normalerweise so gut zügeln konnte. Und warum er, als Francis sich nicht gewehrt hatte, ihm das eine gesagt hatte, was den Bruch zwischen ihnen endgültig besiegeln würde.
Fröstelnd klappte Joe seinen Jackenkragen hoch und rief sich ihr Gespräch ins Gedächtnis. Sie hatten von Robin gesprochen. »Die kommt angerannt, sobald ich mit den Fingern schnippe«, hatte Francis gesagt. »Wie ein braves Hündchen.« Er wurde von neuem wütend.
Er hatte Francis geschlagen, weil er es nicht hatte hören können, daß dieser Robin beleidigte. Elliot, du Idiot, brummte Joe, du liebst doch Robin Summerhayes seit Ewigkeiten. Er hätte sich vormachen können, daß er und Robin nichts weiter als Freunde waren, daß er sie gern hatte, sich ihr gegenüber wie ein älterer Bruder fühlte, aber er wußte, das wäre Lüge
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