Das Winterhaus
Ely abfuhren, fühlte sie sich besser, eher imstande, mit sich selbst zu leben, eher imstande, die Beschuldigungen zurückzuweisen, die ihr immer noch in den Ohren dröhnten. »Du bist keiner normalen menschlichen Regung fähig, nicht wahr, Maia? Du bist nicht fähig zu lieben.« Sie fuhr sehr schnell auf dem Weg nach Blackmere, und Helen griff kreischend nach ihrem Hut, wenn sie um die Kurven schossen. Als sie sich am Ende des Abends von Helen und Hugh verabschiedete, drückte sie beide sehr fest an sich, als wollte sie sich selbst bestätigen, daß das, was Charles Maddox gesagt hatte, nicht wahr sei.
Hugh fuhr Helen nach Thorpe Fen zurück. Der Abend war mild; die Sterne waren alle hinter einer dicken Wolkendecke versteckt. Als sie das Pfarrhaus erreichten und Hugh vor dem Tor anhielt, stieg er nicht gleich aus, um ihr die Wagentür zu öffnen. Vielmehr berührte er ihre Hand, als sie schon dabei war, ihre Tasche an sich zu nehmen, um sie aufzuhalten.
»Warte noch einen Moment, Helen.«
Sie war froh, daß er in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wie rot sie wurde. Seine Hand lag immer noch auf der ihren, prickelnd und erregend selbst durch ihren dünnen Handschuh.
»Wie fandest du sie?«
Im ersten Moment wußte sie nicht, wovon er sprach. Offenbar merkte er es, denn er fügte hinzu: »Maia – ich hatte den Eindruck, es ging ihr nicht gut.«
Mit einer Willensanstrengung richtete sie ihre Gedanken auf Maia. Sie runzelte die Stirn und nickte. »Ja, sie war wieder mal so gleißend. So ist sie immer, wenn was mit ihr ist.«
»Gleißend? Ha.« Er schien erheitert über ihre Wortwahl.
»Es geht ihr wahrscheinlich nicht gut, weil bald Weihnachten ist. Du weißt doch, Hugh. Wegen Vernon. Er ist am ersten Weihnachtsfeiertag gestorben.«
»Natürlich.« Hugh drückte ihr flüchtig die Hand und ließ los. »Wie dumm von mir, daran nicht zu denken.«
Helen dachte, wie schön es sei, wie harmonisch, daß sie hier so sitzen und sich über eine gemeinsame Freundin unterhalten konnte. Er stieg aus dem Wagen, ging außen herum und öffnete ihr die Tür. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter, stellte sich auf Zehenspitzen und küßte ihn auf die Wange. In Gesellschaft von Hugh, der gut über einen Meter achtzig groß war, kam sie sich nie plump und unförmig vor.
Er sagte mit einem Blick auf das Pfarrhaus: »Das Haus ist wirklich unheimlich groß. Du und dein Vater, ihr müßt euch da drinnen doch verlaufen. Man könnte ein halbes Dutzend Familien in diesem Haus unterbringen.«
Als sie durch den Garten zum Haus ging, erkannte sie plötzlich, daß Hugh selbst die Lösung ihres Problems gefunden hatte.
Im Lauf des letzten Monats hatte Joe Francis selten gesehen. Sie teilten sich zwar die Wohnung, aber Francis führte derzeit ein Nachtleben und verschlief meist die Tage, während Joe, dessen Tag mit seinen politischen Aktivitäten und seiner Arbeit im Pub ausgefüllt war, meist ziemlich früh am Morgen aufstand. Joe wußte, daß Vivien sich wieder verheiratet hatte (er war zur Hochzeit eingeladen gewesen, hatte aber Arbeit vorschützend abgesagt), und hatte gesehen, in was für einem Zustand, zitternd und ausgelaugt von durchgemachten Nächten, Francis drei Tage später zurückgekehrt war. In den zwei Wochen, die seitdem vergangen waren, hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Ihre Interessen und ihre Freundeskreise waren nicht mehr die gleichen.
Auch Robin hatte er in letzter Zeit kaum zu Gesicht bekommen. Robin hatte immer zu tun, war ständig wie ein kleiner Wirbelwind in London unterwegs, um anderer Leute Probleme zu richten. Joe hätte vermutet, daß Francis Robin abends sah, doch in letzter Zeit waren Diana Howarth, Selena Harcourt und Charts Fortune, alles ehemalige Flammen von Francis, wieder recht häufig aufgetaucht. Joe sagte sich, was zwischen Robin und Francis los sei, gehe ihn nichts an, aber irgendwie war ihm unbehaglich.
Eines Abends, als er im Pub bediente, kam Francis. Es war Freitagabend, zehn Uhr, und der Navigator war brechend voll mit Männern, die unbedingt ihren Wochenlohn in Rekordzeit auf den Kopf hauen wollten. Freitags kam es oft zu Prügeleien, und der Wirt stand auch an diesem Abend mit aufgekrempelten Ärmeln wachsam bereit, um jederzeit eingreifen zu können.
Joe goß Francis einen Scotch ein und schob ihm den Wasserkrug hin. Francis zündete sich eine Zigarette an, während Joe einen anderen Gast bediente. Als Joe wieder frei war, sagte er beiläufig: »Wo ist Robin? Ich habe
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