Das Winterhaus
gestellt hatte, in Bändern und verwelkten Blütensträußchen gewühlt, ungewiß zunächst, worauf sie da gestoßen war. Bis sie die alte Tanzkarte gefunden hatte. »Florence Stevens« stand darauf, der Mädchenname ihrer Mutter. Die Briefe und Fotografien waren unter Spitzenhandschuhen und Korsetts und mottenzerfressenen Pelzstolen vergraben gewesen. Als hätte jemand einfach alles holterdiepolter hineingeworfen, die Truhe zugeschlagen und unter die Balken geschoben, um sie nie wieder zu öffnen.
Als Helen jetzt auf dem Boden am Fenster saß, versuchte sie die Schnur zu lösen, die die Papiere zusammenhielt. Der Knoten war sehr fest, und am Ende mußte Helen die Schnur durchbeißen. Die vergilbten brüchigen Papiere rutschten ihr aus der Hand und flatterten über den Boden. Die Kerze näher an einen der Zettel haltend, las sie die fremde runde Handschrift. »Schnürsenkel – drei Paar Glacéhandschuhe – Lebensmittelhändler wegen Rosinen fragen.« Ein Einkaufszettel. Helen legte ihn zur Seite und ergriff einen Briefumschlag. Die Handschrift darauf kannte sie. Sie wurde rot, als sie den Brief herauszog, den ihr Vater vor vielen Jahren geschrieben hatte.
Doch auch der war eine Enttäuschung. »Sehr verehrte Miss Stevens«, hatte Julius Ferguson geschrieben, »ich schreibe Ihnen, um Ihnen für den reizenden Abend zu danken, den ich mit Ihnen verbringen durfte. Ihre Anwesenheit hat mein Unbehagen an einem Zeitvertreib, den andere für einen Mann meines Amtes für unschicklich halten würden, aufs schönste gelindert. Ich hoffe zuversichtlich, der Tanz hat Sie nicht allzusehr ermüdet.« Und dann noch etwas über das Wetter und seine besten Wünsche an Florences Vormund und zum Schluß ein »Ihr ergebener Diener, Julius Ferguson«.
Helen legte den Brief auf das Fensterbrett und breitete die Handvoll Fotografien auf dem Boden aus. Eine sehr junge Florence mit ihren Eltern, die steif und ernst wirkten; Florence in ihrer Pfadfinderinnenuniform, deren breitkrempiger Hut ihr schmales Gesicht mit den großen Augen beschattete. Florence auf der Schaukel im Pfarrgarten; Florence unter der Kastanie im Vorgarten. Ein Dutzend Fotografien von Florence, alle im Pfarrgarten aufgenommen. Auf jedem Bild trug sie ein helles, duftiges Kleid, Knopfschuhe und kurze Handschuhe. Obwohl sie zu der Zeit, als die Aufnahmen gemacht worden waren, schon verheiratet gewesen sein mußte, trug sie das Haar immer noch offen in Korkenzieherlocken, die ihr auf die Schultern fielen. Und doch hatte die Ehe Florence verändert, dachte Helen, als sie noch einmal die früheren Fotos zur Hand nahm. Ihr Blick hatte sich verändert, er war verschlossen und geheim geworden, und um ihren Mund lag nicht mehr das scheue, zarte Lächeln.
In der folgenden Woche hatte ihr Vater eine Erkältung. Sie brachte ihm heiße Zitrone mit Honig und hüllte ihn am Feuer im offenen Kamin in Decken. Sie saß zu seinen Füßen und las ihm die Briefe vor, die sie geschrieben hatte, um die Gemeinde zu Spenden aufzurufen. Der Dezember brachte noch mehr Regen und böige Winde, die um die zahlreichen Kamine des Pfarrhauses heulten und Dachschindeln auf die Terrasse hinunterschleuderten. Die Dorfstraße verwandelte sich in schwarzen Morast, der bis über die Ränder von Helens Überschuhen reichte, als sie zum Briefkasten ging. Adam Hayhoe, der gerade half, die vom Regen durchweichte Reetbedachung einer besonders heruntergekommenen Kate abzudichten, warf galant seine Ölhaut über die tiefsten Pfützen, als er sie erblickte. Mit Dank nahm sie seine dargebotene Hand und stieg ganz wie einst die Königin Elisabeth aus dem schlimmsten Sumpf auf relativ trockenen Boden.
Eines Samstags kam Maia. »Ich dachte, ich gönne mir mal einen freien Nachmittag«, erklärte sie mit fröhlicher Unbeschwertheit, ehe sie Helen in ihrem Automobil entführte.
Sie fuhren nach Ely und spazierten unter Helens Regenschirm durch die mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen. Der Wind packte den Schirm und drehte das Innere nach außen, und sie flüchteten in das nächste Geschäft. Es war ein Modegeschäft – Stangen und Stangen voller Kleider. Maia rieb den Stoff zwischen den Fingern und sagte: »Sie sparen natürlich am Material«, aber Helen war hingerissen.
»Ich habe noch nie – ich habe meine Kleider immer selbst geschneidert …« Die billigen Kleider mit ihren goldblitzenden Knöpfen und kunstseidenen Krägen erschienen ihr ungeheuer begehrenswert.
»Probier doch mal eines an. Was für eine
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