Das Winterhaus
politischer Minderheiten hatte einen stetigen Strom von Flüchtlingen ausgelöst – Juden, Kommunisten, Sozialisten, Künstler und Intellektuelle –, von denen viele hofften, in Großbritannien bleiben zu können. Robin, die in ihrer Freizeit für den internationalen Solidaritätsfonds der Labour Party und der Gewerkschaften sammelte, hatte Niklaus Wenzel, einen politischen Flüchtling aus München, vor einigen Monaten kennengelernt.
»Haben Sie von Ihrem Bruder gehört, Herr Wenzel?«
»Hans ist immer noch im Lager in Dachau. Ich habe seit drei Monaten nichts mehr von ihm gehört.«
Sein Ton war ruhig und höflich, doch in seinen Augen sah sie die Verzweiflung. Sie stand an den Torpfeiler gelehnt, halb drinnen, halb draußen. Auf der einen Seite waren Wärme, Musik, Freunde, auf der anderen Kälte und Nebel.
Wenig später brach Robin auf und ging zu Fuß zu dem Nachtlokal, in dem sie mit Francis verabredet war. Er war schon da, als sie kam, saß, ein Glas in der Hand, an einem Ecktisch. Einen Moment lang betrachtete sie ihn unbemerkt mit einer tiefen, inneren Freude: das helle, leicht gelockte Haar, das knapp bis zum Kragen seines Jacketts reichte, die halb geschlossenen, schläfrig wirkenden grauen Augen; den schlanken, anmutigen Körper, den sie so liebte. Seit seiner Rückkehr aus Amerika im Frühling bemühte sich Francis, nicht mehr über seine Verhältnisse zu leben, und dachte ernsthaft an eine politische Karriere. Sie ihrerseits hatte ihm zugestanden, daß er seine Freunde und anderen Interessen braucht. Schließlich war sie ja immer noch eine Gegnerin allen Besitzdenkens.
Er sah auf und kam sofort durch den Raum auf sie zu. Er küßte sie. »Wie war die Versammlung?«
Francis zog ein Gesicht. »Tödlich. Es ist nicht zu glauben, Robin – sie haben eine geschlagene Stunde lang darüber debattiert, ob sie bei der nächsten Parteiveranstaltung lieber ein kaltes Buffet oder eine Tombola organisieren sollen, um Geld in die Wahlkasse zu kriegen. Als hinge davon die Demokratie ab!«
Sie küßte ihn. »Aber du hältst doch durch, nicht wahr, Francis?«
»Natürlich. Ich tu's ja für dich.«
Er nahm ihre Hand und küßte sie. Dann sagte er: »Ich bin zu einer Fete in einem Nachtklub in Soho eingeladen. Alle gehen hin. Wollen wir los?«
Am zweiten Weihnachtsfeiertag wartete Helen, die Daisy Summerhayes' Einladung zum Mittagessen mit einem höflichen Briefchen abgelehnt hatte, bis ihr Vater nach dem Abendessen eingeschlafen war, ehe sie in den Speicher hinaufging. Sie nahm eine Petroleumlampe mit und hockte sich, in eine dicke Strickjacke eingemummt gegen die Kälte, auf den Boden ihres Zimmers. Den interessantesten ihrer Funde hatte sie sich bis zuletzt aufgehoben: das Tagebuch ihrer Mutter, ein in Leder gebundenes Büchlein. Während Eis die kleinen Scheiben des Fensters überzog, schlug sie es auf und begann zu lesen.
Zu jeder Woche gab es zwei oder drei Eintragungen. Manchmal waren die Eintragungen kurz, bestanden nur aus einigen Zeilen. (»Miss Cooper« – Florences Gouvernante, vermutete Helen – »hat uns heute verlassen. Ich habe Fluten geweint. Sie ist jetzt bei den Bowmans in Aylesbury. Ich habe ihr zum Abschied ein selbstgemachtes Buchzeichen und eine Haarspange geschenkt.«) Dann wieder bedeckten Florences runde, schulmädchenhafte Schriftzüge mehrere Seiten – eine ausführliche Schilderung ihres ersten Balls, auf dem sie ein Abendkleid aus weißer Tussahseide mit einer Tournüre getragen hatte und »literweise gräßliche Zitronenlimonade« getrunken hatte; dann wieder zweieinhalb Seiten über eine unglaublich langweilige Abendgesellschaft. Helen überflog die Aufzeichnungen nur und blätterte ungeduldig weiter. Erst als sie den ersten Hinweis auf ihren Vater entdeckte (»8. Mai 1908 Benton House«), begann sie genauer zu lesen.
»Stella hat mich mit Pastor Ferguson bekannt gemacht, der in East Anglia eine Pfarrei hat.« Das war alles. Helen hatte mehr erwartet Liebe auf den ersten Blick vielleicht, irgendeinen Hinweis darauf, daß Florence Julius die gleichen Gefühle entgegengebracht hatte wie er ihr.
»26. Mai 1908, Benton House. Wir haben Doppel gespielt. Teddy war Stellas Partner, und ich habe mit Pastor Ferguson zusammengespielt. Es war ein wenig komisch, mit einem Pastor zusammen Tennis zu spielen. Er ist sehr alt, fast dreißig. Stella und ich haben nachts noch eine große Orgie veranstaltet. Wir haben die Speisekammer geplündert, nachdem die Köchin zu Bett gegangen war.
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