Das Winterhaus
begab sich auf die Suche nach Merlin. Sie fand ihn schließlich auf der Wendeltreppe hockend, den Kopf im Schoß einer Rothaarigen, in den Händen eine Flasche Scotch. Die Rothaarige schlief.
»Merlin.« Sie beugte sich zu ihm hinunter und küßte ihn auf beide Wangen. »Es ist toll. Einfach toll.«
»Findest, du?« Sein Blick schweifte düster über das Gedränge. »Glaubst du, sie kommen wegen der Bilder oder wegen des kostenlosen Alkohols?«
»Wegen beidem vermutlich«, antwortete sie aufrichtig. »Hast du schon was verkauft?«
»Vier Stück«, sagte er angewidert. »Ich habe ein Porträt von Maia gemalt. Möchtest du es sehen?« Er rückte von der Rothaarigen ab und rappelte sich etwas mühsam hoch. »Es ist da drüben.«
Robin nahm seinen Arm, als sie sich zwischen den Tanzenden hindurchschoben. Sie sah ein Dutzend bekannter Gesichter – Diana Howarth und Angus und Freddy und eine Schar von Persias Bekannten aus der Bloomsbury-Clique. Aber als sie vor dem Porträt stand, versanken Stimmengewirr und Musik im Hintergrund. Maia war in Weiß. Sie konnte eine Andeutung von Federn und Wellen und dem weiten Himmel über den Fens erkennen.
»Ich habe es ›Der silberne Schwan‹ genannt«, bemerkte Merlin. »Erinnerst du dich?«
Natürlich erinnerte sie sich. Ihr erster Kuß. Sie und Merlin auf der Veranda des Winterhauses über dem Wasser, während Maia gesungen hatte.
Merlin lachte. »Ich habe tatsächlich versucht, sie zu verführen, Robin. Erst als das Bild fertig war natürlich. Ich war neugierig.«
»Und?«
»Sie hat mir fast die Eier abgefroren. Der arme Teufel, der sich in sie verliebt, tut mir heute schon leid.«
Sie hatte Maia im vergangenen Jahr kaum zu Gesicht bekommen. Sie hatte natürlich von dem Angestellten des Kaufhauses gehört, der sich das Leben genommen hatte, nachdem Maia ihn entlassen hatte, aber als sie versucht hatte, mit Maia darüber zu sprechen, hatte diese mit soviel eisiger Arroganz reagiert, daß es sogar Robin die Sprache verschlagen hatte. Doch die Kluft, die seit Vernons Tod zwischen ihnen bestand, war dadurch noch weiter aufgerissen, würde wahrscheinlich, dachte Robin jetzt, nie mehr zu überbrücken sein.
Merlin sagte: »Wo ist denn – wie heißt er gleich – Viviens Sohn? Sie war vorhin mit Denzil hier. Ich versuche, ihm meine Kreuzigung zu verkaufen.«
»Francis ist bei einer Versammlung. Joe ist irgendwo hier in der Nähe. Er kommt Weihnachten nach Blackmere.«
»Ich auch.« Merlin lallte ein wenig. »Ich nehm euch beide im Wagen mit. So, Robin, mein Schatz, und jetzt werde ich mich so richtig vollaufen lassen. Nur vier Verkäufe …«
Merlin kehrte zu der Rothaarigen und seiner Whiskyflasche zurück.
Jemand drückte Robin ein Glas Bier in die Hand; jemand anders forderte sie zum Tanzen auf. Die Musik der Jazzband dröhnte durch die Riesenhalle, und während sie tanzte, dachte sie an die Ereignisse des vergangenen Jahres zurück. Francis' Rückkehr aus Amerika, der herrliche Urlaub, den sie im Sommer auf dem Kontinent verbracht hatten, und Francis' Entscheidung zu versuchen, in der Politik Karriere zu machen. Im Oktober die Veröffentlichung des Buchs, das sie mit Neil Mackenzie zusammen geschrieben hatte: Es war freundlich, wenn auch ohne großes Aufsehen aufgenommen worden, doch obwohl sie stolz gewesen war, als sie ihr Leseexemplar des fertigen Buchs aufgeschlagen hatte, verspürte sie kein Verlangen, mehr zu schreiben. Sie verdiente sich jetzt ihren Lebensunterhalt mit Teilzeitarbeit in der Klinik und verschiedenen kurzfristigen wissenschaftlichen Untersuchungsaufträgen. Die alte Rastlosigkeit hatte wieder begonnen sie zu plagen.
Sie tanzte mit Guy und mit Joe und dann mit Selena, die sich den Fuß gebrochen hatte und schwer auf Robins Schulter gestützt lachend auf einem Bein herumhüpfte. Jemand hatte das riesige Tor der Halle geöffnet, und sie konnten vor dem dunstigen, orangeschwarzen Himmel Londons die Silhouetten von Kirchen und Bürobauten sehen. Eine Uhr schlug Mitternacht, und Robin, die an die offene Tür gelehnt frische Luft schnappte, spürte, wie jemand ihren Ellbogen berührte.
»Fräulein Summerhayes?«
»Ja?« Sie blickte auf. Ein Mann stand neben ihr, dunkelhaarig, schäbig gekleidet, mit magerem Gesicht. Robin lächelte. »Herr Wenzel, wie schön, Sie wiederzusehen.«
Der deutsche Reichskanzler, Adolf Hitler, hatte vor einigen Monaten die Macht in Deutschland an sich gerissen, und die nun einsetzende Verfolgung rassischer und
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