Das Winterhaus
Genau wie in der Schule!«
Helen blätterte weiter. Wieder ein Ball … die Beschreibung eines Theaterstücks, das Florence und Stella zusammen mit einer dritten Schulfreundin, Hilary, aufgeführt hatten. Ein Krocketspiel im Garten mit Stellas Brüdern (»Teddy ist sehr lieb und ruhig. Gar nicht wie ein Junge«), ein Fahrradausflug aufs Land.
»18. Juni 1908, Benton House. Es war so heiß, daß wir im Mühlteich hinter dem Garten gebadet haben. Ich hatte kein Badekostüm, aber ich habe einfach mein Kleid ausgezogen und meinen Unterrock in meine Hose gestopft. Es war göttlich – so kühl, rundherum alles bewachsen, und im Wasser schwammen Stichlinge und andere kleine Fische. Aber wir haben die Glocke zum Tee nicht gehört, und dann kam Pastor Ferguson uns holen. Es war mir schrecklich peinlich, daß er mich in diesem Aufzug gesehen hat, aber Stella sagte, daß geistliche Herren viel schlimmere Dinge zu sehen bekommen – Leichen und Kranke und alle möglichen schrecklichen Dinge.«
Helen stellte sich den Teich ähnlich vor wie den vor Robins Winterhaus. Sie dachte an die vielen Sommertage, da sie auf der Veranda gesessen und Robin und Maia beim Schwimmen zugesehen hatte, und empfand einen Schimmer von Bedauern, daß sie niemals mit ihnen hineingesprungen war. Florence hätte es getan. Helen sah wieder in das Tagebuch hinunter und las weiter.
»19. Juni 1908!!! Ich kann kaum schreiben vor Aufregung! Ich habe eben meinen ersten Heiratsantrag bekommen!!!«
»20. Juni 1908, Benton House. Ich bin verlobt. Stellas Vater, der mein Vormund ist, hat gesagt, ich solle Pastor Fergusons Antrag annehmen. Julius Ferguson sollte ich ihn jetzt eigentlich nennen. Julius (Julius!) ist ein finanziell unabhängiger Mann, bezieht außerdem sein Gehalt und hat keine Angehörigen. Er ist also eine gute Partie (ein vulgärer Ausdruck, behauptet Stella). Mrs. Radcliffe meint, wir könnten Anfang September heiraten, ich solle aber keine große Hochzeit erwarten. Ich wollte, ich könnte mit irgend jemandem über alles reden. Ich habe es mit Stella versucht, aber ich glaube, sie ist beleidigt, daß ich vor ihr einen Antrag bekommen habe. Sie war ziemlich bissig. Mama fehlt mir so sehr.«
Helen knöpfte ihre Jacke zu. Ihre Hände waren eiskalt. Sie las weiter – über Florences Hochzeitskleid, die Planungen für das Hochzeitsfrühstück, ihre Aussteuer. Endlose Listen von Unterwäsche, Bettwäsche und Porzellan.
»9. September 1908, Benton House. Ein schrecklicher Tag. Mrs. Radcliffe nahm mich beiseite und begann mir etwas von den Begierden der Männer zu erzählen. Ich weiß nicht, was sie damit meinte. Wahrscheinlich wollte sie mir sagen, daß ich immer genug zu essen dahaben soll – Männer essen ja mehr als Frauen. Aber ich habe angefangen zu weinen und wollte mit ihr über die Hochzeit reden, die morgen ist, und über all die Dinge, die mir angst machen, und da ist sie sehr ärgerlich geworden. Sie sagte, die Hochzeit könnte unmöglich verschoben werden, sie rechne jetzt jeden Tag damit, daß Mr. Lindrick um Stellas Hand anhalten würde, und es wäre wirklich rücksichtslos von mir, gerade jetzt so ein Theater zu machen. Stella sah, daß ich geweint hatte, und fragte mich, ob es um das Liebesleben der Maikäfer ginge. Ich wußte nicht, was sie meinte, aber sie hat mir erzählt, daß die kleinen Kinder durch den Nabel der Frau auf die Welt kommen und daß das sehr weh tut. Ich glaube ihr nicht. Es ist alles zu gräßlich.«
Helen blätterte um. Die nächste Seite war leer. Sie blätterte weiter und sah, daß nur noch ein einziger Satz in dem Tagebuch stand. »Guter Gott, was Frauen ertragen müssen.«
Zu Weihnachten fuhr Robin eine Woche nach Hause. Blackmere Farm platzte förmlich aus allen Nähten: Richard und Daisy und Hugh, Persia, Merlin, Joe, Maia und die vier Mitglieder eines Streichquartetts aus Bayern, die Richard Summerhayes über den internationalen Studentendienst kennengelernt hatte – sie alle drängten sich im Haus. Merlin schlief in Hughs Zimmer auf dem Boden, Persia und Maia quetschten sich in das kleine Gästezimmer. Joe nächtigte mit drei Steppdecken im Winterhaus. Die Bayern sprachen kaum Englisch, aber ihre Musik war schön und zauberisch. Doch die Abwesenheit Helens – der stillen, unaufdringlichen Helen – wurde Robin immer auffälliger.
Als sie überlegte, konnte sie sich nicht erinnern, wann sie Helen das letztemal gesehen hatte. Es mußte bestimmt sechs Monate her sein. Helen hatte ihr jede Woche
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