Das Winterhaus
die zuckenden Lichter im Moor sah, blieb sie einen Moment stehen, wie gelähmt vor Angst. Plötzlich hörte sie hinter sich ein Geräusch und ließ mit einem Schrei ihre Tasche fallen.
»Miss Helen? Alles in Ordnung?«
Überwältigt von Erleichterung, erkannte sie Adam Hayhoes Stimme. Er hielt sein Fahrrad hinter ihr an. Sie wies zum Moor.
»Ich hab Lichter gesehen – da hinten …« Ihr gesunder Menschenverstand meldete sich. »Sumpfgase natürlich … wie albern von mir …«
Adam hob Helens Tasche auf und hängte sie an die Lenkstange seines Fahrrads. Sie gingen nebeneinander am Straßenrand entlang.
»Irrlichter nennen sie die alten Leute im Dorf. Oder Leichenkerzen. Ich denke mir, daß hinter vielen Gespenstergeschichten die Irrlichter stecken. Vor ein paar Jahren muß es noch ganz schön gefährlich gewesen sein, über die Fens zu gehen. Immer mußte man Angst haben, in einem Sumpfloch oder einem Graben zu landen – und dann auch noch diese Lichter, wo eigentlich gar keine Lichter sein sollten. Aber ich hab sie immer schön gefunden«, sagte er mit einem Blick über seine Schulter.
Die Lichter tanzten in der Dunkelheit.
»Ja, das sind sie auch.«
Adam sah sie an. »Wir könnten querfeldein gehen, wenn Sie wollen, Miss Helen. Das ist kürzer.«
Sie bogen auf den schmalen, morastigen Fußweg zwischen den Wiesen ab. Das Licht an Adams Fahrrad beleuchtete das Schilf an den Gräben. Helen wußte, wenn sie allein gewesen wäre, hätte sie niemals diesen Weg genommen. Doch mit Adam an ihrer Seite verlor sie ihre Furcht, und die anderen Gedanken, die sie beschäftigten, seit sie das Tagebuch ihrer Mutter gelesen hatte, kehrten zurück.
»Adam«, sagte sie unvermittelt, »erinnern Sie sich an meine Mutter?«
Er sah sie an. Er hatte ein angenehmes Gesicht, braune Haare und braune Augen, ein Gesicht, das mehr dazu geschaffen war zu lächeln, als finster dreinzublicken.
»Ja«, antwortete er. »Ein wenig.«
»War sie hübsch?«
»Blondes Haar wie Sie, aber ein schmäleres Gesicht. Groß …« Sie sah ihn lächeln. »Wie ein Füllen.«
»Tolpatschig wie ich?«
»O nein, Liebes …« Er war vorausgegangen, überquerte schon den schmalen Steg, der den Graben überspannte, und der Wind war stärker geworden, fuhr raschelnd durch Schilf und Gras. Sie glaubte deshalb, das letzte Wort nicht richtig gehört zu haben. Adam legte sein Fahrrad auf der anderen Seite des Grabens nieder und bot ihr die Hand, um ihr über die Holzplanke zu helfen.
»Ich hab nur gemeint – sehr jung. Sie hat einmal mit uns Burschen Cricket gespielt. Auf dem Anger. Und Ted Jackson hat einen Ball ins Abseits geschlagen, und sie hat ihn gefangen. Dann hat sie den Schläger genommen und den Ball geschlagen, hat ihre Röcke hochgezogen und ist gerannt wie ein Junge. Sie hat leicht ein halbes Dutzend Läufe gemacht, ehe der Pastor sie gesehen hat und ihr gesagt hat, sie soll ins Haus gehen.«
Sie gingen weiter. Die Sonne, die beinahe ganz hinter den Horizont gesunken war, sandte letzte leuchtende Strahlen über das Land, und einen Moment lang erschien es Helen schön und gar nicht mehr bedrohlich.
Eines mußte sie noch wissen. Seit sie das Tagebuch gelesen hatte, hatte sie begonnen, an der Liebe ihres Vaters zu ihr zu zweifeln. Wenn er versucht hatte, Florence nach seinem Belieben zu formen, hatte er dann auf ähnliche Weise das Leben seiner Tochter in eine Form gepreßt, die ihm behagte? Hatte er es egoistisch darauf angelegt, ihr den Mann, das Heim, die Kinder, nach denen sie sich sehnte, zu verweigern?
»War meine Mutter hier glücklich, Adam?«
Er drehte den Kopf, um sie anzusehen. Sie glaubte Mitleid in seinem Blick zu erkennen.
»Ich weiß es nicht, Miss Helen. Ich war damals ja noch ein kleiner Junge. Und sie war nur so kurze Zeit bei uns. Nur ein Jahr.«
Adam Hayhoe machte Helen mit seinen Freunden, den Randalls, bekannt, die das Stück Land zwischen dem Fluß und Thorpe Fen bewirtschafteten. Sie waren Methodisten und besuchten die kleine, geduckte Kirche nicht weit von Blackmere Farm. Die Randalls hatten drei Kinder: die achtjährige Elizabeth, die sechsjährige Molly und Noah, der gerade laufen gelernt hatte. Noah, ein draller, freundlicher kleiner Bursche mit Grübchen in den runden Wangen, kletterte sofort auf Helens Schoß; seine älteren Schwestern starrten Helens langes blondes Haar und ihr geblümtes Kattunkleid an und hielten, ihre Puppen im Arm, mißtrauisch Abstand. Noah in den Armen haltend, bewunderte Helen die
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