Das Winterhaus
letzte Aufnahme machen, als einer der Schwarzhemden dem reglos daliegenden Mann einen Tritt gab, so daß er langsam die Treppe hinunterrollte. Dann hob einer der Ordner den Kopf, auf der Suche nach dem Fotografen.
»Nimm das«, murmelte Joe und drückte Robin seinen Mantel in die Arme, »und lauf!«
Diesmal erhob sie keine Widerrede. Joe rannte zum Haupteingang. Robin rannte mit seinem Mantel in den Armen den Korridor entlang, eine Treppe hinunter und schlüpfte zu einer Seitentür hinaus. Als sie die Straße zum Untergrundbahnhof hinunterlief, blickte sie sich um und sah nicht Joe, sondern zwei Schwarzhemden, die vielleicht hundert Meter hinter ihr waren. Ihre Stirn und ihre Hände waren schweißnaß. Sie hörte ihren eigenen keuchenden Atem. Als sie sich ein zweites Mal umblickte, sah sie, daß die Schwarzhemden näher herangekommen waren, und begann noch schneller zu laufen. Verzweifelt hielt sie nach einem Polizisten Ausschau, doch von den berittenen Truppen, die sie vorher bemerkt hatte, war nirgends etwas zu sehen. Sie waren jetzt nur noch ungefähr fünfzig Meter von ihr entfernt – große, muskulöse junge Männer mit kantigen Gesichtern. Als sie um eine Ecke bog, sah sie ihre Chance zu entkommen. Vorübergehend den Blicken ihrer Verfolger entzogen, bemerkte sie ein Tor, das von einer Seitengasse aus in den Hinterhof eines Hauses führte. Sie schoß hinein und sah sich nach einem Versteck um. Der Hof war leer bis auf eine Mülltonne, einen struppigen Baum fast ohne Laub und einen Kohlenbunker. Sie zwängte sich durch die schmale Öffnung und drückte sich mit angehaltenem Atem an die Wand. Der kleine Betonbau war schwarz von Kohlenstaub. Stimmen schallten durch die Gasse. Robins Hände krampften sich in den Mantel, den sie hielt. Dann verstummten die Stimmen, die Schritte der Schwarzhemden entfernten sich, und Robin begann in der schwarzen Finsternis zusammengekauert unkontrollierbar zu zittern.
Sie fuhr zu Joes Haus und wartete dort auf ihn. Eine Nachbarin bot ihr an, sich bei ihr zu waschen, und machte ihr eine Tasse Tee. Um elf ging sie auf die Straße hinaus und rief von einem öffentlichen Fernsprecher aus die Krankenhäuser an, konnte aber nichts in Erfahrung bringen. Sie setzte sich wieder ins Treppenhaus und wartete, Joes Mantel auf ihren Knien. Ab und zu nickte sie ein, nur um ein paar Minuten später schreckhaft wieder hochzufahren.
Es war nach Mitternacht, als seine Schritte, langsam und schwerfällig, sie weckten. Sie stand auf.
»Joe?« Alles in Ordnung? wollte sie fragen, aber als sie sein Gesicht im Licht der Glühbirne sah, die von der Decke herabhing, blieben ihr die Worte im Hals stecken. Hätte er nicht gesprochen, sie hätte ihn, dachte sie, nicht erkannt. Sein blutverschmiertes Gesicht war voller Schwellungen und offener Wunden, seine Kleider waren verdreckt und zerrissen.
»Die Schweine haben meine Kamera zertrümmert«, murmelte Joe halbwegs die letzte Treppe hinauf. »Der Schlüssel ist in meiner Tasche, Robin. Kannst du …«
Sie nahm den Schlüssel aus seiner Jackentasche und sperrte die Tür auf. »Setz dich. Du solltest zu einem Arzt gehen, aber ich werd sehen, was ich tun kann.« Ihre Stimme zitterte. Sie holte sich einen Stuhl und setzte sich. Die ungewöhnliche Langsamkeit seiner Bewegungen verriet ihr, daß er starke Schmerzen hatte.
Sie suchte in seiner Wohnung nach Desinfektionsmittel und Verbandszeug. Die Zimmer waren kahl, spartanisch. Sie fand keine Scharpie, darum nahm sie kurzerhand einen Kopfkissenbezug, der zum Trocknen am Gasfeuer hing, und riß ihn in Streifen. Sie bemühte sich, ihm nicht weh zu tun, aber sie sah, wie er die Fäuste ballte, wenn sie die offenen Wunden abtupfte. Um ihn abzulenken, redete sie. Über alles und nichts, über die Schule, über ihre Eltern, über ihre Freunde. Sein Mund war zu einer harten schmalen Linie zusammengepreßt; das Auge, das nicht zugeschwollen war, war dunkel und trüb. »Sie hatten Schlagringe«, erklärte er, als sie eine Bemerkung über die Platzwunden machte.
Als sie fertig war, sah er sie an. »Du wärst eine gute Krankenschwester.«
»Ich wäre eine gute Ärztin «, sagte sie kurz, während sie aufzuräumen begann. »Neil Mackenzie hat mir Erste Hilfe beigebracht.« Sie musterte ihn genauer und sah, daß er einen Schock hatte. »Hast du Scotch im Haus, Joe? Der wird zwar in den Büchern nicht empfohlen, aber …«
»Im Schlafzimmer.«
Das Schlafzimmer war wie der Rest der Wohnung karg eingerichtet. Nur ein
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