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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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ihn gesehen.«
    Einmal, vor zehn Jahren, hatte er im Gedränge Londons Freunde gesehen, die in Flandern gefallen waren, und er hatte Kanonendonner mitten im Verkehrslärm gehört.
    »Wenn man jemandem verbunden war – wenn einem jemand, der vorzeitig gestorben ist, sehr fehlt –, dann glaubt man manchmal, ihn zu sehen.«
    Endlich zitterte sie wenigstens nicht mehr, aber Hugh war nicht beruhigt.
    »Ich habe ihn schon früher gesehen«, sagte sie. »Aber immer nur im Traum.«
    Er setzte sich neben sie, aber er berührte sie nicht mehr. Er hatte schon vor langem Maias Abneigung gegen menschliche Berührung gespürt. Die Umarmung, die sie ihm in ihrer Not und ihrem Schrecken erlaubt hatte, würde wahrscheinlich nie wiederholt werden.
    Er versuchte es ihr zu erklären. »Das kommt, weil du ihn geliebt hast.«
    Sie sah ihn an. Er erblickte in ihren blauen Augen zuerst Verwirrung, dann Schmerz.
    »Du verstehst nicht, Hugh«, sagte sie. »Ich habe Vernon nie geliebt.«

11
     
    1934 gab es in Thorpe Fen eine große Überschwemmung, ein schwarzer Glanz auf den Feldern den einen Tag, kniehohes Wasser in den tiefstgelegenen Häusern am nächsten. Adam Hayhoe half den Landarbeiterfamilien, das Wasser aus ihren Katen zu schöpfen, aber es war hoffnungslos, das Wasser sickerte nur durch den Torf wieder nach oben und sammelte sich dunkel und unerbittlich unter den Bodenplatten.
    Er füllte gerade einen letzten Eimer mit schlammigem Wasser, als jemand an die Tür klopfte. Als er sich herumdrehte, sah er Helen. Er richtete sich auf und tippte lächelnd an seine Mütze.
    »Guten Morgen, Miss Helen.«
    »Guten Morgen, Adam. Ich wollte fragen, ob ich vielleicht etwas helfen kann.«
    »Wenn Sie eine Tasse Tee machen könnten, Miss Helen. Der alte Jack, der arme Kerl, hat den ganzen Tag noch keinen Tropfen gehabt.«
    Sie ließ Wasser in den Kessel laufen und stellte ihn auf den Herd, den er vorher angezündet hatte. Sie sagte: »Wie geht es Jack?«, und er verlor die Geduld, die eigentlich zu seinem Wesen gehörte, und ließ seinem Zorn freien Lauf. »Jack Titchmarsh ist siebzig Jahre alt, er hat Rheumatismus von der ewigen Feuchtigkeit, und sein Rücken ist für immer gekrümmt von der Arbeit als Torfstecher. Und er muß in so einer Hütte hausen.«
    Sie drehte sich nach ihm um. Sie sah aus wie ein verängstigter Hase mit ihren weit aufgerissenen Augen und den weichen, runden Wangen.
    Er sagte ruhiger: »Der arme Kerl tut mir leid – noch einen Winter hier übersteht er nicht.«
    Die Katen gehörten zum Großen Haus. Jack Titchmarsh, der fast sechzig Jahre für die Familie Frere gearbeitet hatte, hatte die Erlaubnis, in der seinen zu bleiben, nur bekommen, weil sie im Grunde nicht mehr zumutbar war. Auf stetig absinkendem Moorboden errichtet, stand das ganze Gebäude mittlerweile völlig schief. Die Vorhänge mußten an der Wand festgemacht werden, weil sie sonst mit ungefähr dreißig Zentimeter Abstand vom Fensterbrett herabgefallen wären. Der bitterkalte Ostwind blies durch den Spalt zwischen Tür und Pfosten. Einmal im Sommer hatte Adam ein junges Paar gesehen, das auf der Durchfahrt durch das Dorf lachend auf das winzige »Hexenhaus« gedeutet hatte.
    Adam schob den schmutzigen Vorhang zur Seite, der die Küche vom hinteren Zimmer trennte, damit Helen die Tasse Tee nach hinten bringen konnte. Sie bewegte sich mit einer linkischen Anmut, die ihn bezauberte. Wie so oft zuvor fragte er sich, wie sie da oben in diesem großen, häßlichen Haus zusammenlebten, sie und der alte Pfarrer. Waren sie eine enge kleine Familie, glücklich und zufrieden mit sich selbst? Adam dachte an die Unzufriedenheit, die er in letzter Zeit des öfteren in Helens Blick bemerkt hatte, und bezweifelte es. Er wünschte sich, er könnte sie trösten, und wußte, daß er es nicht durfte. In seiner Verwirrung ergriff er den Besen und begann den Boden zu fegen.
    Die Hayhoes lebten schon seit Jahrhunderten in Thorpe Fen. Immer waren sie Zimmerleute gewesen; die Kunst ihres Handwerks war von Generation zu Generation weitergegeben worden, und bis vor kurzem hatte man in Thorpe Fen immer einen Zimmermann gebraucht.
    Aber die Zeiten hatten sich geändert. Die, welche es sich leisten konnten, kauften billige Fertigmöbel in den neuen Warenhäusern, und die, welche es nicht konnten, ließen sich von dem neuen Mann in Soham für billiges Geld etwas zusammenschludern. Adam wußte, daß die Fertigwaren keine fünf Jahre halten würden, und er verachtete die schlampige

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