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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Arbeit des Zimmermanns in Soham. Die Stücke, die Adam fertigte, würden ein Leben lang halten. Er hätte sich geschämt, wäre es nicht so gewesen.
    Vor zwanzig Jahren hatte es für die Handwerker von Thorpe Fen – den Schmied, den Korbmacher, den Zimmermann – Arbeit genug gegeben. Ihr Leben war sicherer und in vieler Hinsicht einfacher gewesen als das der Landarbeiter, der Torfstecher, der Hausangestellten, die die restliche Bevölkerung des Dorfs ausmachten. Dann war der Krieg gekommen, und weder der Schmied noch der Korbmacher waren aus Flandern zurückgekehrt. Adam, der Ende 1918 heimgekommen war, hatte gesehen, daß die allgemeinen Veränderungen bis nach Thorpe Fen vorgerückt waren. Die jungen Mädchen traten nicht mehr automatisch mit vierzehn in die Dienste der Familie Frere, sondern suchten sich Arbeit als Verkäuferinnen in Ely oder Soham, und die jungen Männer – die wenigen, die übrig waren – zogen mit ihren Familien in die Stadt, sobald sie dort Arbeit gefunden hatten. Die Bevölkerung von Thorpe Fen war seit dem Krieg merklich geschrumpft, und Adam, der selbst um seine Existenz kämpfte, fragte sich, ob nicht das Dorf bald nur noch aus einer Kirche, einem Pfarrhaus und einer Reihe verfallender alter Häuser bestehen würde, die nur noch von Gespenstern bewohnt waren.
    Nachdem Helen das Tagebuch gelesen hatte, war sie nicht mehr in den Speicher hinaufgegangen. Wenn sie sich der Fotografien erinnerte, dieses einen kurzen letzten Satzes – »Guter Gott, was Frauen ertragen müssen« –, schämte sie sich. Es war, als hätte sie durch ein Schlüsselloch geguckt und die intimsten Momente im Leben eines anderen Menschen beobachtet.
    Schlimmer aber als die Scham war die Furcht. Diese Fotografien, dieses Tagebuch bedrohten die Grundlage ihres eigenen Lebens. Immer hatte man ihr erzählt, daß die Ehe ihrer Eltern ein Idyll gewesen sei, daß Florences früher Tod eine glückliche Familie gesprengt habe. Jetzt mußte sie fragen, ob man ihr die Wahrheit gesagt hatte. Wenn sie an die Fotografien von Florence mit ihren Korkenzieherlocken und ihren duftigen Kleidern dachte, meinte sie, Kummer, nicht Freude in diesen großen, beschatteten Augen zu sehen. Das, was sie in dem Tagebuch gelesen hatte, war nicht zu vereinbaren mit den Schilderungen ihres Vaters von Liebe auf den ersten Blick und ehelicher Seligkeit. Sie begann sich zu fragen, ob ihr Vater sich selbst etwas vorgemacht oder ob er versucht hatte, die junge Florence in eine Form zu pressen, in die sie sich nicht hatte einfügen können. Sie begann sich zu fragen, ob sich nicht auch Florence in dieser trostlosen, unwirtlichen Landschaft wie eine hilflose Gefangene gefühlt hatte.
    Als die Regenfälle endlich nachließen, begann Helen sich mit schlechtem Gewissen um die Pflichten zu kümmern, die sie in letzter Zeit hatte schleifen lassen. Die Vorbereitungen für den Osterbasar, die Besuche bei den Kranken und Alten. Wenn sie die Straße hinunterging, weg von dem Grüppchen Häuser, die sich um die Kirche scharten, fühlte sie sich stets von neuem von der Leere der Landschaft bedrängt, die nur aus den endlosen flachen Feldern und Wiesen, den langen, silbrig schimmernden Linien von Gräben und Dämmen bestand. Sie drückte sie nieder. Einen Nachmittag fuhr sie nach Ely, weil sie hoffte, das würde sie aufheitern, aber das tat es nicht. Die Straßen, die Geschäfte, das Kino erinnerten sie an glücklichere Tage, die sie zusammen mit Hugh, Robin und Maia hier verbracht hatte. Sie brauchte länger als erwartet für ihre Einkäufe und verpaßte ihren Bus und mußte eine Stunde lang auf den nächsten warten. Als er schließlich kam, stellte sie mit Entsetzen fest, daß sie nicht genug Geld im Portemonnaie hatte, um für die Fahrt bis nach Thorpe Fen zu bezahlen. Der Schaffner sah mitleidlos zu, während Helen mit rotem Kopf umständlich die Münzen abzählte und sah, daß ihr zwei Pence fehlten. Sie mußte drei Kilometer vor Thorpe Fen aussteigen. Das Land war weit und düster, nur ein einziges Gehöft und zwei Hütten waren von der Bushaltestelle aus zu sehen. Das Licht schwand, und die Wolken zogen lange schwarze Schatten über das Moor. Helen ging schnell, den Mantelkragen hochgeschlagen, ihren Schal fest um den Hals gewunden. Nirgends war ein Mensch zu sehen, nur weit oben flog eine Schar Wildgänse. Doch sie hatte das Gefühl, von fremden Augen beobachtet zu werden, als sie beinahe im Laufschritt die Straße entlangeilte, und als sie aufblickte und

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