Das Winterhaus
Schweiß glänzte auf ihren Armen, hatte sich unter ihren Brüsten und in der seichten Rinne ihres Rückgrats gesammelt. Sie zog das grüne Seidenkleid an, das sie sich vor Jahren geschneidert hatte, und ging ins Eßzimmer. Tomatensuppe und Hammelbraten und Pudding. Der Hammelbraten war fast kalt, das Fett am Tellerrand schon geronnen. Betty hatte zu Weihnachten gekündigt, um in einem Geschäft in Cambridge als Verkäuferin zu arbeiten. Sie hatten keinen Ersatz für sie finden können, und Ivy hatte Mühe, die ganze Arbeit allein zu machen.
Sie konnte ihren Pudding nicht essen. Er war klumpig und gallertartig. Sie starrte auf ihren Teller und schob sich das feuchte Haar aus dem Gesicht.
»Geht es dir nicht gut, Helen?« fragte ihr Vater. »Du hast kaum etwas gegessen.« Der harte Winter hatte ihm zugesetzt, Bronchitis und Herzbeschwerden hatten den hageren Körper weiter abgemagert.
»Es geht mir ausgezeichnet. Mach kein Theater, Daddy«
Sie schob ihren Teller weg und starrte zum Fenster hinaus in den stillen Garten. Vor einem Jahr hätte sie nicht so mit ihm gesprochen. Vor einem Jahr hätte er ihre Gereiztheit nicht kleinlaut hingenommen. War er früher herrisch gewesen, so war er jetzt unterwürfig. Das Gewicht der Macht hatte sich verlagert. Zu spät, dachte Helen.
Er stand vom Tisch auf und trat hinter sie. Sie haßte es, wenn er ihr so nahe kam. Als er ihre Hand berührte und murmelte: »Du bist ein wenig heiß, Hühnchen«, riß sie sie weg. Seine Berührung erinnerte sie an Maurice Page. Dank Maurice Page hatte sie begriffen, was Florence Ferguson in ihr Tagebuch geschrieben hatte. »Guter Gott, was Frauen ertragen müssen.«
Am folgenden Tag, einem Sonntag, war es wieder drückend heiß. In der Kirche beobachtete Helen eine Hummel, die immer wieder gegen ein Fenster anflog. Tolpatschig, laut brummend prallte sie auf der Suche nach einem Weg ins Freie unzählige Male gegen die Scherben farbigen Glases. Die Worte der Predigt ihres Vaters hallten zwischen steinernen Säulen und Bögen wider. Sie hatte in dieser Woche vergessen, für frische Blumen zu sorgen. Die Sträuße der letzten Woche waren braun und welk. Sie schämte sich, bis sie sich umblickte und die leeren Sitzreihen sah. Sie erschrak und begriff nicht, was geschehen war. Aber dann fiel ihr ein, daß die Lovells und die Carters fortgezogen waren und daß Jack Titchmarsh und die alte Alice Dockerill im vergangenen Winter gestorben waren. Die Kirche war immer zu groß gewesen für das Dorf, und als Helen jetzt nachzählte, sah sie, daß ihr Vater nur noch einer Gemeinde von weniger als zwei Dutzend Menschen predigte.
Die Hummel, die sich in einem Spinnennetz verfangen hatte, brummte zornig und fiel in zarte Fäden eingesponnen auf die Steinplatten hinunter. Helen rutschte zum Ende der Bank und bückte sich. Mit ihren behandschuhten Händen hob sie das Tier auf. Dann ging sie aus der Kirche hinaus.
»Selig sind die Sanftmütigen, denn sie …« Sie wußte, daß ihr Vater sie gesehen hatte. Sie merkte es daran, daß er innehielt, einen Moment den Faden verloren hatte. Aber er hatte sowieso unrecht: Die Sanftmütigen würden niemals das Erdreich besitzen, sie mußten von allen verlassen zusehen, wie die Starken, die Mutigen, die Schönen alles an sich rissen. Als Helen ihre Hände öffnete, schoß die Hummel in die Höhe und flog zu den Heckenrosen und dem Jelängerjelieber davon.
Auf dem Weg von der Kirche sah sie die Trostlosigkeit, die sich über Thorpe Fen gesenkt hatte; die verfallenden Katen mit ihren vor Schmutz blinden Fenstern und den durchhängenden Dächern; die riesigen Löcher in Straßen und Wegen, in denen sich im Herbst das Wasser sammeln würde. Nicht nur sie selbst, sah Helen, war aufgegeben worden, sondern das ganze Dorf. Keine Hochspannungsmasten marschierten über die Felder nach Thorpe Fen; die neuen Straßen ließen es links liegen und verbanden andere Dörfer mit den städtischen Gebieten. Das Altvertraute war im Begriff sich aufzulösen, und nichts ersetzte es. Die alten Feste, die einst den Ablauf des Jahres markiert hatten, starben aus. Das Christentum, das in den Kampf gezogen war, eine ältere Religion abzulösen, war jetzt selbst daran zu scheitern. Während Helen dort stand, den Blick auf die verstopften Gräben und die verwilderten Felder gerichtet, fragte sie sich, ob Robin recht hatte. Es gibt keinen Gott. Die Worte dröhnten wie Kirchenglocken in ihrem Kopf.
Als sie bei den Randalls war und Michael in den
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