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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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durch die Fabrik. Joe bewunderte die neuen Maschinen (»die haben mich auch ein Vermögen gekostet«) und fotografierte, während sein Vater dabeistand und ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden klopfte, seine einzige Möglichkeit, wie Joe nach einer Weile vermutete, so etwas wie Stolz zu zeigen. Als sie aus der riesigen, lauten Halle hinaustraten, sagte sein Vater: »Ein paar Tage alle drei Jahre reicht nicht, um das Geschäft zu lernen, Joe.«
    Sie gingen die steile, mit Kopfstein gepflasterte Straße hinauf zum Haus. Nach ein paar Minuten blieb John Elliot stehen und sah Joe an. »Du hast ihre Fotografie mitgenommen. Es war immer eine von meinen liebsten.«
    »Tut mir leid, Dad«, sagte Joe. »Ich mache Abzüge und schicke dir einen.«
    »Das will ich hoffen.« John Elliot ging weiter schwer atmend den steilen Anstieg hinauf.
    »Du solltest ein bißchen kürzertreten, Dad. Du siehst müde aus.« John Elliot prustete verächtlich. »Kürzertreten? Damit hier alles verkommt? Du würdest höchstens eine leere Fabrikhalle und ein paar rostige Maschinen erben, wenn ich kürzertreten würde.«
    Er fragte sich, ob er die Spinnerei eines Tages übernehmen würde. Er könnte ja einiges ändern; selbst in Hawksden konnte man doch mit der Zeit gehen. Wenn man es schaffte, den Paternalismus des 19. Jahrhunderts abzuschütteln, mußte sich doch dieses kleine, fest in der Tradition verankerte Dorf, wenn auch vielleicht schreiend und strampelnd, ans Licht der Moderne ziehen lassen …
    Aber noch nicht. Noch nicht. Die Zeitungen hatten an diesem Morgen in Schlagzeilen von der Invasion Abessiniens durch Mussolini berichtet. Es war die erste offen aggressive Handlung einer faschistischen Regierung. Ein ferner Krieg in einem fernen Land oder ein erster gefährlicher Schachzug in einem tödlichen Spiel, das alle anging? Wenn das letztere zutraf, würde er – Joe – nicht mehr länger abseits stehen können, das wußte er. In München und im Olympia war er Zuschauer geblieben. Aber es reichte nicht, nur zuzusehen und Zeugnis abzulegen. Bald würden sie alle sich entscheiden müssen, und dann würden die kleinen, privaten Kämpfe zu Hause in einem viel größeren Kampf untergehen.
    Joe ging langsamer, um sich dem Tempo seines Vaters anzupassen. Seit seinem letzten Besuch war sein Vater stark gealtert. Sein Haar war ganz weiß geworden, und das Fleisch begann von seinen Knochen zu schmelzen, so daß sich unter seinen Augen und den breiten Wangenknochen tiefe Mulden gebildet hatten. Er war nicht mehr der große, kräftige Mann, den Joe einst gefürchtet hatte. Er schob seinem Vater die Hand unter den Ellbogen, um ihm die glitschigen feuchten Stufen zur Haustür hinaufzuhelfen, und wurde nicht weggestoßen.
    In der Woche nach ihrer Rückkehr aus Bournemouth absolvierte Robin ihr tägliches Leben wie ein Automat. Sie kam sich vor wie eine unwillige Schauspielerin in einem verwirrenden Stück. Sie arbeitete in der Bibliothek, um die Recherchen abzuschließen, die sie im Auftrag eines Freundes ihres Vaters übernommen hatte, und verbrachte mehrere Vormittage in der Klinik. Die Tage vergingen schleppend und freudlos, und sie spürte in sich eine große Leere, eine Unfähigkeit, irgend etwas zu empfinden. Wäre sie des Zorns fähig gewesen, so hätte sie darüber gewütet, daß Francis ihr mit ihrem Stolz auch ihre Leidenschaft und ihren Tatendrang geraubt hatte.
    Sie erhielt drei Briefe von den Ausschüssen, denen sie angehörte, Nachfragen bezüglich ihrer Abwesenheiten in dieser Woche. Sie warf sie alle drei in den Papierkorb. Sie konnte sich nicht aufraffen, Erklärungen zu geben. Zum erstenmal in ihrem Leben war ihr alles einfach gleichgültig, und es erschien ihr sinnlos und ziemlich lächerlich, mit welchem Feuer sie einmal gekämpft hatte. Francis hatte recht behalten: Es würde wieder Krieg geben, und sie konnte nichts tun, um es zu verhindern.
    Sie bekam einen Brief von Daisy. Sie mußte den ersten Abschnitt zweimal lesen, um ihn zu begreifen, und dann mußte sie sich aufs Bett setzen, weil ihr plötzlich die Luft wegblieb. Als sie von dem Schreiben aufsah, hatte sie das Gefühl, die Wände ihres Zimmers würden sie erdrücken. Das Licht der Welt blickte spöttisch auf sie herab, als sie ihren Regenmantel vom Haken riß und ihn überzog. Dann lief sie Hals über Kopf aus dem Haus.
    Es gab nur einen Menschen, zu dem sie gehen konnte, nur einen, der sie vielleicht verstehen würde. Während sie durch die Straßen rannte, stieg

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