Das Winterhaus
umkrampften das Lenkrad. Sie starrte durch die Windschutzscheibe auf die Straße und ermahnte sich zu lenken, ihren Fuß aufs Gaspedal zu drücken. Gelächter stieg in ihrer Kehle auf, aber sie würgte es hinunter.
»Unsere Kinder werden bestimmt wunderschön«, sagte Hugh, und sie hätte schreien mögen.
Den Winter 1935/1936 hindurch hatte Robin zuerst um Francis getrauert, dann war sie zornig geworden und verbittert über die vergeudeten Jahre, die sie damit zugebracht hatte, auf ihn zu warten, ihr Leben ganz auf ihn einzustellen. Es dauerte Monate, ehe der Zorn allmählich verging, und dann folgte etwas wie Erleichterung, eine Erschöpfung, die mit der Erkenntnis einherging, daß sie endlich eine Sehnsucht aufgegeben hatte, die ihr letztlich mehr Schmerz als Freude gebracht hatte.
Es war, als hätte sie in einem Buch umgeblättert und könnte nun den Rest des Buchs lesen. Sie fand wieder Orientierung und Zielstrebigkeit. Sie begann als Ganztagskraft im Empfang der Klinik zu arbeiten; sie bat Dr. Mackenzie, ihr bei der Abfassung eines Bewerbungsschreibens an die medizinischen Fakultäten der Londoner Universitäten zu helfen. Sie verließ die Schwestern Turner nach einem tränenreichen Abschied von den beiden Damen und den Wellensittichen und mit dem Versprechen, sich ab und zu bei einer Séance sehen zu lassen, und zog in ein abgeschlossenes Zimmer in Whitechapel: ein Wohnraum mit einem Gaskocher, einem Spülstein und einem Möbelstück, das recht optimistisch als Bettcouch bezeichnet wurde, sowie einem Gemeinschaftsbadezimmer. Vierzehn Tage lang hielt sie das Zimmer vorbildlich in Ordnung, dann ließ sie es zu gemütlichem Chaos verkommen. Sie hängte bunte Plakate auf und stapelte ihre Bücher auf einem Regal, das aus Brettern und Ziegelsteinen errichtet war. An ihrem Geburtstag lud sie Joe zum Abendessen ein und hielt sich beim Kochen so genau an die Rezepte in Daisys altem Kochbuch, wie sie früher in der Schule chemische Versuche durchgeführt hatte. Als Joe kam, standen im ganzen Wohnzimmer Töpfe und Pfannen und Schüsseln mit Gemüseresten herum.
»Alles Gute zum Geburtstag.« Er schwenkte einen Strauß Narzissen. Dann sagte er mit einem Blick in die Runde ehrfürchtig: »Du lieber Gott.«
»Ja, ist es nicht furchtbar? Stell einfach alles auf den Schrank, Joe, und wirf eine Decke drüber. Schön, die Blumen – die erinnern mich an zu Hause. Warte, ich hole eine Vase.«
Der kleine Tisch stand am Fenster, und sie konnte beim Essen auf den Platz hinaussehen. Joe schenkte zwei Gläser Apfelmost ein, und Robin servierte das Essen.
»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte er noch einmal, und sie stießen miteinander an. »Ich hab ganz vergessen, wie alt du wirst, Robin.«
»Sechsundzwanzig.« Sie zog ein Gesicht und dachte acht Jahre zurück, an das Winterhaus, an das Bad im Fluß und das Versprechen, das sie, Maia und Helen einander gegeben hatten, die großen Meilensteine im Leben einer Frau gemeinsam zu feiern. Die Jahre hatten diesen Meilensteinen die Bedeutung genommen.
»Denk doch mal, Joe – wenn ich damals nicht zu der Versammlung gegangen wäre, hätte ich dich nie kennengelernt.«
»Und Francis auch nicht«, sagte er.
Und Francis auch nicht. Sie starrte ihn einen Moment an, dann sah sie verwirrt, einen Moment lang völlige Leere im Kopf, auf ihren Teller hinunter. Sie hörte ihn sagen: »Alles in Ordnung, Robin?«
»Ja, klar. Die Rissolen schmecken ein bißchen komisch, findest du nicht? Ich hatte keine Tomaten mehr, da hab ich rote Bete genommen.« Sie trank hastig von ihrem Most.
Joe sagte: »Ich habe heute morgen einen Brief von meinem Vater bekommen. Du weißt doch, daß ich in München meine Tante Claire gesucht habe?«
Er schien eine Antwort zu erwarten. Sie nickte, konnte aber nicht sprechen.
»Also – Claire hat meinem Vater wieder geschrieben – sie hat ihm vor Jahren schon einmal geschrieben und nach meiner Adresse gefragt, aber damals wußte er nicht, wo ich lebe. Kurz und gut, er hat mir ihren Brief mitgeschickt.«
Endlich schaffte sie es, ein paar Worte zu sagen. »Das ist ja wunderbar, Joe.« Ihre Stimme klang seltsam dumpf.
»Ich habe ihr geschrieben und ihr meine Adresse mitgeteilt. Sie lebt in einem Kloster, Robin – kein Wunder, daß ich sie nicht aufstöbern konnte.«
Sie verzog den Mund zu einem automatischen Lächeln. Sie sah, wie ihre Hand das Glas hob und danach die Gabel ergriff. Selbst die einfachsten, vertrautesten Dinge schienen sich plötzlich verändert
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