Das Winterhaus
die Nacht in einem Graben oder hinter einer Hecke verbracht. Nicht daß mir das viel ausgemacht hätte – ich hab das früher oft getan, als ich noch ein junger Bursche war und auf Wanderschaft gegangen bin. An einen leeren Magen gewöhnt man sich schon schwerer. Na ja – ich hab mir gedacht, ich beeil mich besser und sehe zu, daß ich Arbeit bekomme, ehe ich wie ein Landstreicher ausschau. Ich hab also meine besten Sachen angezogen und bin von Tür zu Tür gegangen. Ich hätte jede Arbeit angenommen, ob Fenster reparieren oder Zäune ausbessern – ganz egal.« Sie folgten dem schmalen Fußweg an der Wiese entlang. Adam bot Helen die Hand, um ihr über einen Zauntritt zu helfen.
»Aber ich hatte Glück. Ich bekam Arbeit bei einem Herrn, der zwei sehr schöne Sessel hatte, die dringend gerichtet werden mußte. Ich hab ihm angeboten, sie wieder erstklassig in Ordnung zu bringen – ich mußte ganz schön reden, um ihm klarzumachen, daß ich ein guter Handwerker bin –, aber am Ende hat er's mich versuchen lassen. Die Arbeit ist mir gut gelungen – die Schnitzereien haben genau übereingestimmt. Da hat er mich an eine Dame weiterempfohlen, die ein kleines Geschäft in Brighton hatte.«
»In Brighton!« rief Helen. »Das ist doch wahnsinnig weit.«
»Aber ein ganz netter Ort. Nur laut. Ich war da vor Jahren schon mal, ehe ich an die Front gekommen bin. Da hab ich im Meer gebadet.«
»Ach, ich würde so gern mal das Meer sehen. Erzählen Sie, Adam. Beschreiben Sie mir, wie es aussieht.«
Er blieb einen Moment am Feldrain stehen. Der Himmel war so dunkel geworden, daß schon die ersten Sterne zu sehen waren. Lange Schatten krochen über die schwarzen Erdwälle des Felds.
Adam sagte nachdenklich: »Es wechselt immerzu die Farbe. Mal ist es blau, dann grün oder grau, aber ich hab's nie an zwei Tagen gleich gesehen. Und das Geräusch von den Wellen auf den Steinen klingt wie der Wind im Schilf. Und es ist so großartig und gewaltig, daß man sich ganz klein fühlt. Aber das ist gar kein so übles Gefühl.«
Allein wäre sie niemals hier stehengeblieben, auf der einen Seite die weite Fläche der Felder und Wiesen, auf der anderen Moor und Gräben und Ried bis zum Horizont. Sie wußte, was Adam meinte: »Es ist so großartig und gewaltig, daß man sich ganz klein fühlt.« Im allgemeinen machte ihr das angst. »Das klingt wunderbar, Adam.« Sie gingen weiter. »Na, jedenfalls – diese Dame – Mrs. Whittingham heißt sie – suchte einen Zimmermann für zwei ganz besondere Stücke. Es waren zwei zusammengehörige Vitrinen, in die chinesische Vasen reingestellt werden sollten. Scheußlich waren die, ein häßliches Dunkelrot mit Schwarz. Mrs. Whittingham hat mich im Hinterzimmer ihres Ladens arbeiten lassen, ich hab ihr die Dinger gerichtet, und als sie fertig waren, hat sie mich zu ihrem Bruder nach London geschickt. Der hat da eine Werkstatt. Für ihn hab ich auch ein paar Arbeiten gemacht.« Im schwindenden Licht sah Helen Adam lächeln. »Ich mußte immer selbst mit den Kunden reden und fragen, was sie genau haben wollten. Da waren vielleicht komische Vögel dabei – eine Frau kam immer mit ihrer Siamkatze. Sie hat sie den ganzen Tag mit sich rumgeschleppt, unter den Arm geklemmt wie eine Handtasche. Und ein Herr, für den ich gearbeitet habe, war immer im Morgenrock, ganz gleich, um welche Zeit ich zu ihm gekommen bin. Aber elegant natürlich, so ein glänzender Stoff mit aufgenähten Drachen. Trotzdem, ich hab ihn kein einziges Mal in einem ordentlichen Anzug gesehen. Und er hatte eines von diesen Augengläsern, ein Monokel.« Adam schüttelte den Kopf. »Überhaupt, was diese Leute für Sachen haben. Der Schmuck, der Nippes, die Gemälde … Ich versteh nicht, wie die das aushalten. Alles voll Zeug. Ich persönlich brauch ein bißchen freien Raum. Ich hätte keine Lust, mich dauernd um diesen ganzen Kram zu kümmern.«
Helen konnte die Lichter des Hauses der Randalls am Ende des Fußwegs sehen.
»Und arbeiten Sie immer noch für den Herrn in London, Adam?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin dann wieder über Land gezogen, hab hier ein bißchen was gearbeitet und da ein bißchen was. Meinen letzten Auftrag hatte ich in Peterborough, und da hab ich mir gedacht, es wird Zeit, nach Hause zu gehen und mal nach dem Rechten zu sehen.« Er drehte den Kopf und sah Helen an. »Ich möchte für niemanden arbeiten, Helen. Ich möchte mein eigener Herr sein. Ich werde nie wieder nach anderer Leute Pfeife tanzen. Es
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