Das Winterhaus
Furcht, die sie keinen Moment verließ.
Die zehn Minuten waren um. Sie steckte Hughs Brief wieder in ihre Tasche. Wenigstens wußte sie, daß Hugh am Leben war. Von Joe hatte sie nichts gehört.
Auf dem Heimweg von der Bushaltestelle kam Helen stets an Adam Hayhoes Häuschen vorüber. Oft verweilte sie einige Augenblicke, um im Vorgarten Unkräuter auszuzupfen oder einen Papierfetzen zu entfernen, den der Wind vor die Haustür geblasen hatte. Als sie an diesem Nachmittag das Gartentürchen öffnete, hörte sie jemanden singen.
»›As I walked out one midsummer morning …‹«
Helens Herz klopfte schneller. Sie ließ ihre Körbe einfach fallen und lief zur Haustür.
»Adam? Adam – sind Sie das?«
Der Gesang brach ab, und die Tür wurde geöffnet.
»Adam«, rief sie voll Freude. »Wie schön, daß Sie wieder da sind.« Lächelnd tippte er an seine Mütze. »Schönen Nachmittag, Miss Helen.«
»Adam! Ich hab's Ihnen doch gesagt.«
»Oh, bitte um Verzeihung, Helen. Die Macht der Gewohnheit.« Er lachte.
Sie bemerkte, daß er in Mütze und Mantel war. Ihre Freude trübte sich ein wenig.
»Sie wollen doch nicht schon wieder fort?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich will nur zu den Randalls. Das Haus hat so lange leer gestanden, daß es völlig ausgekühlt ist. Susan Randall hat mir für die Nacht ein Bett angeboten.« Er sah Helen an. »Wollen Sie nicht mitkommen, Helen? Es gibt so vieles, was ich Ihnen gern erzählen würde. Zweieinhalb Jahre sind eine lange Zeit. Und ich würde mich über Ihre Gesellschaft freuen.«
»Zweieinhalb Jahre …«, sagte sie langsam. Ihr war gar nicht bewußt gewesen, daß eine so lange Zeit vergangen war, seit Adam Hayhoe Thorpe Fen verlassen hatte. Es passierte ihr in letzter Zeit häufig, daß sie die Zeit aus den Augen verlor und Wochen und Monate ununterscheidbar ineinanderflossen.
»Sie haben sich kein bißchen verändert, Adam. Ich schon, ich weiß. Ich bin so alt geworden.«
»Alt? Nein.« Sein Gesicht war ernsthaft. Sie war froh, daß er nicht sagte, wie ihr Vater gesagt hätte: »Sie sind ein junges Mädchen, Helen.«
»Sie sind so hübsch wie immer. Aber müde sehen Sie aus. Das ist bestimmt ein Haufen Arbeit, das große Haus in Ordnung zu halten und sich dann auch noch um die Kirche zu kümmern und so.«
»Ach, das! Das kann jeder schaffen. Und ich habe ja die Mädchen, die mir im Haus helfen, und Mrs. Readman macht die ganze schwere Arbeit in der Kirche. Ich bin da ziemlich unnütz. Letzte Woche habe ich vergessen, Petroleum zu bestellen, und wir mußten im Dunkeln zu Abend essen.«
Er sagte: »Begleiten Sie mich?«, und sie nickte und ging ihm voraus durch den Vorgarten.
Obwohl es noch Nachmittag war, begann es schon dunkel zu werden. Helens Blick schweifte über die niedrigen, reetgedeckten Häuser, und sie fröstelte.
»Ist Ihnen kalt, Liebes?«
Das Kosewort erwärmte sie. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist es nicht. Es sind die Häuser – die Fenster sind ganz schwarz. Ich stelle mir immer vor, was alles hinter ihnen lauert.«
Augen, die sie beobachteten, flüsternde Stimmen hinter vorgehaltenen Händen. Manchmal waren es nicht die Augen von Menschen, und die Sprache, in der die Stimmen flüsterten, war unverständlich.
Adam sagte teilnahmsvoll: »Als ich ein kleiner Junge war und im Dunkeln Angst hatte und mich nicht zum Häuschen hinausgetraut habe, hat meine Ma zu mir gesagt, ich sollte mir einfach vorstellen, draußen vor der Tür stünde ein Elefant. Ich hatte natürlich noch nie einen richtigen Elefanten gesehen. Ich kannte nur den aus meinem Bilderbuch – ein tolpatschiges großes Tier mit Flatterohren und einem Rüssel, aus dem Wasser spritzte. Vor so etwas konnte man unmöglich Angst haben. Immer wenn ich zur Hintertür rausgelaufen bin, hab ich mich nach diesem freundlichen, komischen Elefanten umgesehen und hatte keine Angst mehr.«
Er schob seine Hand unter ihren Ellbogen, als sie den von tiefen Furchen durchzogenen Weg entlanggingen. »Sie müssen sich einfach einen Elefanten hinter den Fenstern vorstellen, Helen. Oder irgendwas anderes, worüber Sie lachen müssen.«
»Hühner. Ich glaube, ich stelle mir unsere Hühner vor. Kein Mensch kann vor einem Huhn Angst haben.« Sie spürte, daß ihr Lachen an Hysterie grenzte, und versuchte sich zusammenzunehmen.
»Erzählen Sie mir, was Sie alles erlebt haben, Adam. Haben Sie Arbeit gefunden?«
»Anfangs war es schwierig – furchtbar schwierig. Ich hab in den ersten Monaten oft
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