Das Winterhaus
heraus.«
Sie hatte es als Scherz gemeint, aber es hörte sich an wie eine bittere Klage. Helen blickte die Dorfstraße hinunter und sah den Bus kommen.
Sie waren früh am Bahnhof in Ely; der Zug würde erst in einer Viertelstunde einfahren. Adam schlug vor, noch eine Tasse Tee zu trinken, und sie gingen in das kleine Café. Als er den Tee und die süßen Brötchen geholt hatte, setzte er sich ihr gegenüber und sagte: »Helen – ich komme zurück. Ich verspreche es.«
Sie versuchte zu lächeln, während sie ihren Tee umrührte.
»Und diesmal nicht erst in zwei Jahren. Meine Lage bessert sich – ich glaube, ich kann schon bald anfangen, ein bißchen was auf die Seite zu legen.«
Das Café war leer bis auf die Frau an der Theke.
»Manchmal habe ich solche Angst –«, sagte Helen unvermittelt. Sie hatte das nicht sagen wollen und hielt sich hastig den Mund zu.
Als er sagte: »Angst, wovor denn, Liebes?«, hörte sie die Anteilnahme und Sorge in seiner Stimme.
»Ich weiß es nicht.« Sie lachte ein wenig. »Ganz schön albern, nicht?«
Adam antwortete nicht gleich. Er nahm ihre zur Faust geballte Hand und öffnete sie zart und behutsam. »Sagen Sie es mir, Helen.« Er runzelte die Stirn in dem Bemühen zu verstehen. »Ist es das Haus – das Pfarrhaus? Es ist ja so groß – da gibt es bestimmt so viele leere Zimmer …«
Sie schüttelte den Kopf. Sie dachte an ihr Speicherzimmer, in dem sie sich sicher fühlte. »Nein, das macht mir nichts aus. Da habe ich ja mein Leben lang gelebt.«
»Dann – Ihr Vater?«
Sie starrte ihn einen Moment an, dann lachte sie wieder. »Daddy? Wie sollte ich denn vor Daddy Angst haben?« Doch zum erstenmal ging ihr auf, daß sie nicht die Wahrheit sagte. »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren«, hieß es in dem Gebot. Von Liebe sagte es nichts. Erschrocken erkannte sie, daß das, was sie heute für ihren Vater empfand, nichts weiter war als eine Mischung aus Furcht, Widerwillen und Pflichtgefühl. Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie immer schon so empfunden hatte.
Draußen fuhr donnernd und keuchend der Zug ein. Adam stand auf und nahm seinen Rucksack. Auf dem Bahnsteig hüllten Schwaden von Rauch und Dampf sie ein. Sie verschleierten ihn, entzogen ihn ihr. Es ist so, wollte sie sagen. Da ist irgend etwas zwischen mir und den anderen Menschen. Es hält mich von ihnen fern, es löscht mich aus. Aber da legte er ihr die Hände auf die Schultern und berührte mit seinen Lippen ihre Wange. Sie wich nicht zurück, sondern seufzte leise voll Schmerz und Sehnsucht und wandte sich ihm zu, so daß sein Mund flüchtig den ihren streifte.
Dann war er fort. Der Zug stampfte prustend wie ein gewaltiger feuerspeiender Drache aus dem Bahnhof. Helen blieb auf dem Bahnsteig stehen, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. Dann ging sie, ihren Korb an die Brust gedrückt.
Jeden Tag kämpfte Hugh zwei Schlachten – die eine, allgemeine, gegen die riesige Streitmacht der Nationalisten und die andere, persönliche, gegen seine Krankheit. Wenn das Fieber stieg, fiel es ihm manchmal schwer, die zwei Kriege voneinander zu unterscheiden. Er wußte nicht, was er mehr fürchtete: eine Kugel, die Haut und Knochen zerfetzen würde, oder die Flüssigkeit, die sich in seiner Lunge zu sammeln begann und ihn zu ertränken drohte. Nach einigen Tagen, in denen er etwa ein Viertel seiner Männer hatte fallen sehen, begann das Fieber Halluzinationen hervorzurufen, kleine Zerrbilder der Realität, die ihn Jahre zurückversetzten in die Wirklichkeit, die er 1918 erlebt hatte. Er ließ sich an die Wand des Grabens zurücksinken, schloß die Augen und fragte sich, ob er den ungleichen Kampf um jeden Atemzug überhaupt weiterführen wolle. Dann rief jemand: »Eddie!«, und als Hugh hochfuhr, sah er den Jungen aufrecht stehen, Kopf und Schultern oberhalb des Walls, das Gewehr in Anschlag. Er sah, wie die Kugel die Schulter des Jungen traf und dieser zu Boden stürzte.
Hugh kroch zu ihm hin und öffnete seine Jacke. Eddie sagte: »Ich dachte, wenn ich mich hinstelle, krieg ich sie besser«, und dann begann er zu weinen. »Muß ich jetzt sterben?«
Hugh schüttelte den Kopf. »Aber nein.« Doch er war nicht sicher, ob die Kugel nicht die Lunge des Jungen getroffen hatte.
Er verband die Wunde und legte Eddie so bequem wie möglich nieder. Er suchte den Graben hinauf und hinunter nach dem Sanitätsoffizier, ohne ihn zu finden; er wußte, daß sie sich mitten in einem wütenden Gemetzel befanden. Er
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