Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
Vom Netzwerk:
die entsetzlichen Bilder vor seinen Augen verdrängten alles andere, raubten ihm alle Fähigkeit vernünftiger Überlegung. Er war ein Automat geworden, eine Tötungsmaschine, die nichts anderes verstand. Die Dinge, die ihm einst teuer gewesen waren – die Fotografie, seine Liebe zur Natur und zur Musik –, schienen zum Leben eines anderen zu gehören. Die Zeit selbst war aus den Fugen geraten: Eine Stunde zusammengekauert in einem Graben erschien wie eine Ewigkeit; zehn Tage blutiger Schlacht schrumpften zu einem einzigen langen, alptraumhaften Tag.
    Das Überraschungsmoment der ersten Offensive war bald vertan. Aus dem Kampfvorteil der Republikaner wurde wie stets eine mit Verbissenheit und dem Mut der Verzweiflung geführte Abwehrschlacht, die zwar den Rückzug verhinderte, aber keinen Sieg brachte. Die nationalistischen Flugzeuge flogen so tief, daß ihre Fahrwerke beinahe die Baumkronen berührten, und schossen nach Belieben republikanische Soldaten ab. Joe, der sich an diesem Tag besonders schlecht fühlte, stand mit David Talbot am Geschütz. David feuerte, während Joe die Maxim mit Munition fütterte. Ohne ihn anzusehen, sagte David: »Mensch, wenn du jetzt gleich anfängst zu kotzen, dann bitte nicht hier. Frank Murray kann dich ablösen.«
    Joe kroch aus dem Graben und robbte mit dem Gewehr in der Hand über den Wall. Er konnte das tiefe Brummen eines Flugzeugs hören, aber in diesem Moment kümmerte ihn nichts. Er wollte sich nur übergeben.
    Die Gewalt der Bombe, die nur fünfzig Meter hinter ihm einschlug, erschütterte die Erde. Sein ganzer Körper wurde von der Wucht das Schlags geschüttelt. Als er unsicher aufstand, war um ihn herum alles schwarz. Nur langsam lichtete sich die Finsternis, und als er sich umschaute, sah er den Bombenkrater dort, wo das Maxim-MG gestanden hatte. Er begann ziellos zu laufen. Seine rechte Schulter, seine ganze rechte Körperseite war von Blut verklebt. Er blickte zu seiner rechten Hand hinunter und sah fasziniert zu, wie das Blut von seinen Fingerspitzen tropfte.
    Stolpernd lief er weiter. Da sah er über sich den leuchtenden Feuerbogen der aus dem Mörser abgefeuerten Geschosse, die rund um ihn herum in tausend tödliche Splitter zerrissen. Als er auf die Knie fiel, traf irgend etwas ihn seitlich am Kopf. Der Schmerz war so schrecklich, daß er im letzten Moment seines Bewußtseins dankbar war für die Dunkelheit, die ihn überwältigte.
    Die Glocke läutete jeden Morgen um Viertel nach sechs. Dann Morgengebet, dann Frühstück, dann Bettenmachen. Um Viertel vor acht begann der Arbeitstag. Helen war in der Wäscherei beschäftigt, einem großen, dunklen Gebäude mit langen Tischen und Bänken. Die Tische und Bänke mußten täglich geschrubbt werden, der Boden gescheuert, bis die Steinplatten weiß waren. Es roch nach heißem Seifenwasser und Bleichsoda, und an den Wänden rann das Kondenswasser herunter.
    Die Frauen durften nicht miteinander sprechen. Das machte Helen nichts aus, und auch die Arbeit machte ihr nichts aus, obwohl ihre Hände und Arme vom heißen Wasser rot und rauh waren. Sie war zwar nicht so flink wie einige der anderen Frauen, aber sie war gewissenhaft und gründlich. Das Schweigen und das monotone Arbeiten taten ihren gereizten Nerven gut. Obwohl manches sie außer Fassung brachte – die Körbe mit der Babywäsche, die sie für das Waisenhaus waschen mußten, der Pastor mit seinem Beffchen, der den Frauen jeden Morgen Vorträge über ihre Sünden hielt –, gelang es ihr insgesamt, die schwarzen Tage von sich fernzuhalten. Einige der Frauen ahmten ihre Art zu sprechen nach. Eine nannte sie spöttisch »Herzogin«, weil sie den kleinen Finger abspreizte, wenn sie ihren Teebecher hielt. Der Spitzname blieb ihr. Eine rothaarige Frau spie im Korridor vor ihr aus, und einmal gruben sich in der Wäscherei scharfe Fingernägel in ihren Arm und drehten ihn, bis ihr die Tränen kamen. »Das ist dafür, daß du der armen Frau ihr Kind geklaut hast«, flüsterte eine Stimme. »Du Luder. Die schicken dich in die Klapsmühle, warte nur.«
    Langsam begann Helen zu begreifen, daß sie etwas Schändliches getan hatte. Sie wußte nicht mehr viel davon, weil große Erinnerungsstücke ihr fehlten. Sie wußte noch, daß sie von den Randalls nach Hause gegangen war, und sie konnte sich erinnern, daß sie mit dem Bus nach Ely hineingefahren war. Sie sah die Kathedrale vor sich und hörte die Chorknaben singen. Sie konnte sich erinnern, den Säugling in dem

Weitere Kostenlose Bücher