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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Kinderwagen entdeckt zu haben, und erkannte jetzt, daß es nicht, wie sie geglaubt hatte, Michael Randall gewesen war, sondern das Kind einer anderen Frau. Der Kleine war viel jünger als Michael gewesen und blond, nicht dunkel. Sie konnte sich erinnern, daß sie in der Apotheke Milchpulver und Flaschen und im Textilgeschäft Windeln, Jäckchen und Hemdchen gekauft hatte. Sie konnte sich erinnern, daß sie mit einem anderen Bus als sonst nach Hause gefahren und schon einige Haltestellen vor Thorpe Fen ausgestiegen war. Sie war dann durch die Felder gegangen, den Säugling in den Armen, und hatte sich durch den Küchengarten ins Pfarrhaus geschlichen. Das Mädchen war zum Mittagessen nach Hause gegangen, und Daddy war in seinem Arbeitszimmer gewesen. Helen war mucksmäuschenstill gewesen. Von den zwei Tagen, die Michael – nein, nicht Michael, das Kind hatte, wie sich später herausstellte, Albert geheißen, Albert Chapman – bei ihr gewesen war, wußte sie nichts mehr.
    Sie erinnerte sich, daß Adam und Maia in ihr Zimmer gekommen waren. Maia hatte das Kind genommen, Adam hatte ihr aus dem Speicher geholfen. Auf dem Weg die Treppe hinunter hatte Helen zu schreien begonnen, als sie begriffen hatte, daß sie ihr Michael wegnahmen. Als ihr Vater ihr Vorwürfe gemacht hatte, hatte sie sich auf ihn gestürzt und auf ihn eingeschlagen und ihm das Gesicht zerkratzt.
    Von der Polizei wußte sie gar nichts mehr. Sie erinnerte sich, daß sie in einem Wagen hierhergebracht worden war. Sie mußte sich entkleiden und ihre eigenen Sachen mit dem groben Kittel und der Schürze vertauschen, die sie jetzt trug. Zaghaft hatte sie eine der Aufseherinnen gefragt, ob sie in einem Internat oder einem Krankenhaus sei, und die Aufseherin hatte gelacht und gesagt, sie sei ein Witzbold, das hier sei ein Frauengefängnis. Sie konnte sich deutlich daran erinnern, daß man sie in einer Zelle allein gelassen hatte, und sie erinnerte sich deutlich der schrecklichen Leere ihrer Arme. Sie hatte ihre Zelle an dem Tag nicht verlassen; die Aufseherin war gekommen, hatte sie geschüttelt und angeschrien, doch am Ende hatte sie sie in Ruhe gelassen, und Helen war zusammengekauert, die Fäuste vor ihren Augen, in ihrer Ecke hocken geblieben.
    Insgesamt hatte sie nichts gegen das Gefängnis. Einige der Frauen waren nett, andere waren unfreundlich, aber die meiste Zeit ließen sie sie in Ruhe. Die Aufseherinnen schimpften manchmal, was fielen nicht mochte, aber die, die sie einen Witzbold genannt hatte, war nett und brachte ihr alte Zeitschriften und Wolle zum Stricken. Helen war zu müde, um die Zeitschriften zu lesen, aber sie strickte, langsam und pedantisch, ein Paar Fausthandschuhe für die nette Aufseherin.
    Männer sah man im Gefängnis kaum. Nur den Pastor (fielen steckte sich während seiner Predigten die Finger in die Ohren) und den Arzt. Sie unterwarf sich mit geschlossenen Augen und leise vor sich hin summend, um seine Stimme nicht hören zu müssen, seiner Untersuchung. Ein anderer Mann stellte ihr alle möglichen Fragen über den Tag, an dem sie das Baby mitgenommen hatte. Sie hielt es für möglich, daß er Polizist oder Rechtsanwalt war. Am Besuchstag erklärte ihr Maia, daß sie einen anderen Arzt oder, genauer gesagt, eine Ärztin zu ihr schicken würde. Die Ärztin hieß Dr. Schneider, hatte graues Haar, eine Brille und einen seltsamen Akzent. Sie versuchte mit Helen über das Baby zu sprechen, aber Helen konnte nicht. Sie weinte nur. Dafür erzählte sie Dr. Schneider alle möglichen anderen Dinge, albernes Zeug, wie zum Beispiel von dem Haus, das sie sich als kleines Mädchen im Buchsbaum gebaut hatte, oder von der Wiese mit den Orchideen hinter der Kirche in Thorpe Fen. Sie erzählte ihr vom Tagebuch ihrer Mutter und ihrer Verabredung mit Maurice Page. Und dann erzählte sie ihr Dinge, die sie noch nie einem Menschen gesagt hatte. Wie sie in der Blechwanne in ihrem Zimmer gebadet hatte und aufblickend ihren Vater gesehen hatte, dessen Gesicht im Schatten zwischen Tür und Angel verzerrt gewirkt hatte; wie sie ihrem Vater den Gutenachtkuß gegeben und, wenn er sie an sich gedrückt hatte, gefürchtet hatte, sie würde ersticken.
    Zu Beginn der Kämpfe bei Brunete war Robin mit Dr. Mackenzie und zwei Sanitätern weiter nach Westen gefahren, um eine neue Unterkunft für ihr Feldlazarett aufzutreiben. Sie beschlagnahmten ein Gehöft, reinigten die niedrigen weißen Gebäude und unterrichteten die Lastwagen und Sanitätsfahrzeuge, die

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