Das Winterkind
der den Vorwurf der Konkursverschleppung untersuchte, wäre ich jetzt lieber begegnet als Ira. Wie lächerlich ich in meinem ramponierten Aufzug auf sie wirken musste! Für eine Flucht oder ein Versteckspiel war es längst zu spät. Ich erspähte durch das Fenster, wie jemand unschlüssig auf den Eingang zuschritt. Dieser Jemand war nicht Ira. So ungelenk bewegte sie sich nicht einmal in dickster Winterkleidung. Nein, da kam ein leibhaftiger Engel, mein alter, bewährter Schutzengel. Ich sah es auf den zweiten Blick, mit einer Freude, die mich dazu brachte, aufzuspringen und zur Tür zu eilen. Mein Schutzengel war ein etwa sechzigjähriger, glatzköpfiger Mann von kleiner Statur, dem der liebe Gott die Fähigkeit zu grenzenloser Geduld und größtmöglicher Langmut verliehen hatte.
Ich öffnete die Tür. Der Mann hatte kurz vor dem Eingang abgedreht und war mit einem Ausdruck des Erstaunens zu Lichts Käfig gegangen.
»Ochs!«, rief ich. »Mein Gott, Ochs, was machen Sie hier?«
Mein Chauffeur drehte sich um. Unter einem dünnen blauen Mantel trug er tatsächlich seine graue Kluft, die er jeden Tag im Dienst angehabt hatte. Er tippte sich an seine Schirmmütze und neigte dann leicht den Kopf. Ochs war der beste Fahrer, den ich jemals gehabt hatte.
»Chef«, sagte er mit seiner tiefen Stimme, die überhaupt nicht zu seinem schmächtigen Körper passte. Ira hatte einmal erzählt, Ochs habe eigentlich Theaterschauspieler werden wollen. »Man hat mich geschickt. Ich soll Sie abholen.«
Ich legte meinen Arm zur Begrüßung um Ochs, was er etwas linkisch über sich ergehen ließ. Kein Wunder, fiel mir ein, wir hatten uns noch nie umarmt. Nicht einmal während unserer langen Fahrten hatten wir irgendeine Art von körperlichem Kontakt gehabt. Ich saß im Fond und er hinter dem Steuer. Manchmal nur hatte er mir voller Stolz von seiner Tochter erzählt, die in London in einer Werbeagentur arbeitete.
»Wie haben Sie mich gefunden, Ochs?« Ich bedeutete ihm, in das Haus einzutreten, doch er rührte sich nicht von der Stelle, sondern spähte nur misstrauisch ins Innere und maß mich dann mit einem fragenden Blick.
»Jedermann weiß, wo Sie sich aufhalten«, erwiderte er. »Ihre Frau hat mich geschickt. Wir sollten sofort abfahren.«
»In der Zeitung stand, ich sei untergetaucht.«
Ochs war wirklich unverändert. Er hatte sich am frühen Morgen wieder so gründlich rasiert, dass seine Haut am Hals gerötet war. Der herbe Duft eines billigen Rasierwassers umgab ihn. Diesen einzigen Makel hatte ich ihm niemalsaustreiben können. »Chef, Sie wissen doch selbst, dass man nie glauben soll, was in der Zeitung steht. Ihre Frau hat mir zwar nichts Genaues gesagt, aber ich habe den Eindruck, dass man Sie in der Fabrik zurückhaben möchte. Es gibt auch Gerüchte, Grashoff wolle sich beteiligen, damit die Amerikaner nicht ins Geschäft kommen, aber nur wenn Sie an Bord bleiben.«
Fast hätte ich lauthals gelacht. Wozu das alles? Grashoff war immer mein härtester Konkurrent gewesen, ein grober, redseliger alter Mann, der seit über fünfzig Jahren wie ein Diktator sein Unternehmen führte. Vor zehn Jahren, wenige Wochen nach dem Tod meines Vaters, hatte ich sein Angebot zur Kooperation nach einem nur halbstündigen Gespräch abgelehnt. Grashoff war ein gefährlicher Dinosaurier, jemand, der alle seine Partner immer an die Wand gedrückt hatte. Selbst mein furchtloser Vater hatte Respekt vor ihm gehabt.
»Ochs«, sagte ich aufgeregt und ohne jede Neigung, an Grashoff oder Ira oder die Fabrik zu denken. »Wir sollten nichts überstürzen. Ich koche uns erst einmal einen Kaffee, und dann zeige ich Ihnen meinen Fischreiher, den ich seit ein paar Tagen in Pflege habe.« Ich spürte selbst, wie ich in eine freudige Plauderstimmung geriet.
Mein alter Chauffeur schüttelte bekümmert den Kopf. »Ich habe versprochen, Sie sofort zurückzubringen. Morgen ist eine wichtige Konferenz anberaumt.«
»Zuerst werfen sie mich raus, stellen mich vor aller Welt als Bankrotteur hin, und nun wollen sie mich wiederhaben?«
Ochs lächelte nachsichtig. »Sieht so aus, aber Irren ist menschlich, Chef.«
Im nächsten Moment stieß Licht einen wilden Schreiaus, der meinen Chauffeur, der an solche Laute nicht gewöhnt war, heftig zusammenzucken ließ. Dann bemerkte ich die getigerte Katze, die geduckt über die Wiese schlich. Als sie uns am Haus entdeckte, machte sie sofort kehrt.
»Ich kann hier nicht weg«, sagte ich. »Nicht morgen und
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