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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Wüsteninsekten. Die Yaquis tragen solche Gamaschen bei ihren traditionellen Tänzen. Dann lud ich ihn zum Essen nach Guaymas ein.
    In den fünf Tagen, in denen ich in der Gegend war, besuchte ich ihn jeden Tag. Er gab mir unendlich viele Informationen über die Yaquis, über ihre Geschichte und ihre Gesellschaftsstrukturen sowie über die Bedeutung und das Wesen ihrer Festlichkeiten. Mir machte die Feldarbeit mit Lucas Coronado so großen Spaß, daß ich gewisse Hemmungen hatte, mich bei ihm nach dem alten Schamanen zu erkundigen. Schließlich überwand ich meine Bedenken und fragte Lucas Coronado, ob er den alten Mann kenne, den Jörge Campos als einen berühmten Schamanen beschrieben hatte. Lucas Coronado schien verblüfft. Er beteuerte, seines Wissens habe es in diesem Teil des Landes niemals einen solchen Mann gegeben. Jörge Campos sei ein Betrüger, der es nur auf mein Geld abgesehen habe.
    Die Aussage von Lucas Coronado, jemanden wie den alten Mann gebe es überhaupt nicht, hatte auf mich eine schreckliche, unerwartete Wirkung. Ich wusste plötzlich, daß mir an dieser Art Feldarbeit überhaupt nichts lag. Ich wollte nur den alten Mann finden! Ich begriff, daß die Begegnung mit dem alten Schamanen in der Tat ein Kulminationspunkt gewesen war, der nichts mit meinen Wünschen, Erwartungen oder Gedanken als Anthropologe zu tun hatte.
    Ich fragte mich mehr denn je, wer zum Teufel der alte Mann wirklich sein mochte. Ohne jede Hemmungen begann ich, vor Enttäuschung zu schreien und zu toben. Ich stampfte mit den Füßen auf den Boden. Lucas Coronado war von meinem Ausbruch sehr beeindruckt. Er sah mich verblüfft an und begann zu lachen. Ich hatte nicht geahnt, daß er überhaupt lachen konnte. Ich entschuldigte mich für meinen Wutausbruch. Es gab für mich keine Erklärung, weshalb ich so verzweifelt war. Lucas Coronado schien mein Dilemma zu verstehen.
    »So etwas geschieht manchmal in dieser Gegend«, sagte er freundlich.
    Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, und ich wollte ihn auch nicht danach fragen. Der Gedanke daran, wie schnell er sich beleidigt fühlen konnte, machte mir schreckliche Angst. Ein eigenartiger Zug der Yaqui war ihr Hang, sich beleidigt zu fühlen. Sie schienen ständig nach möglichen Beleidigungen Ausschau zu halten, die ein normal Sterblicher kaum wahrnehmen konnte. »Hier in den Bergen leben magische Wesen«, fuhr er fort. »Sie können Menschen beeinflussen. Sie machen die Menschen buchstäblich verrückt. Unter ihrem Einfluß können Leute schreien und toben. Wenn sie schließlich erschöpft sind und sich wieder beruhigen, haben sie keine Ahnung, warum sie so außer sich geraten waren.« »Glaubst du, das ist eben mit mir geschehen?« fragte ich.
    »Eindeutig«, erwiderte er voll Überzeugung. »Du hast eine gewisse Neigung dazu, aus der Haut zu fahren, aber du bist andererseits auch sehr beherrscht. Heute warst du nicht sehr beherrscht. Du bist grundlos durcheinander.«
    »Ich habe einen Grund«, beteuerte ich ihm. »Bis zu diesem Augenblick habe ich es selbst nicht gewußt, aber der alte Mann ist der Antrieb für all meine Bemühungen.« Lucas Coronado schwieg und schien nachzudenken. Dann ging er langsam auf und ab. »Kennst du einen alten Mann, der möglicherweise hier wohnt, aber nicht aus dieser Gegend stammt?« fragte ich. Er verstand meine Frage nicht. Ich musste ihm erklären, daß der alte Indianer, dem ich begegnet war, vielleicht wie Jörge Campos ein Yaqui war, der irgendwo anders gelebt hatte. Lucas Coronado erklärte, der Name >Matus< sei in dieser Gegend sehr verbreitet, aber einen >Matus< mit dem Vornamen >Juan< kenne er nicht. Er schien nicht mehr weiterzuwissen. Dann hatte er offenbar einen Einfall und erklärte, da der Mann schon alt sei, habe er vielleicht einen anderen Namen. Vielleicht habe er mir seinen Umgangsnamen und nicht den richtigen genannt. »Ich kenne nur einen alten Mann«, fuhr er fort. »Und das ist der Vater von Ignacio Flores. Er besucht seinen Sohn von Zeit zu Zeit, aber er kommt aus Mexico City. Wenn ich so darüber nachdenke, er ist Ignacios Vater, aber er ist nicht so alt. Aber alt ist er. Ignacio ist alt. Sein Vater scheint jedoch jünger zu sein.«
    Bei dieser Erkenntnis lachte er. Offensichtlich hatte er sich über die Jugendlichkeit des alten Mannes bis jetzt nie Gedanken gemacht. Er schüttelte immer noch ungläubig den Kopf. Ich dagegen war unendlich erleichtert und glücklich.
    »Das ist er!« rief ich, ohne zu wissen, warum.

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