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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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eifersüchtig auf meine Gefühle für Professor Lorca. Kaum hatte ich diesen Gedanken, fühlte ich mich erleichtert. Ich verstand alles.
    Ich wollte das Gespräch auf eine etwas andere Weise beenden und fragte: »Sag mir, Don Juan, was ist ein Lebewesen, das sterben wird, eigentlich? Du hast schon so oft darüber gesprochen, aber du hast mir nie eine richtige Definition gegeben.«
    »Menschen sind Lebewesen, die sterben«, antwortete er. »Die Zauberer sind überzeugt, die einzige Möglichkeit, unsere Welt zu verstehen, und das, was wir hier tun, besteht darin, voll und ganz zu akzeptieren, daß wir Wesen sind, die sterben werden. Ohne diese grundsätzliche Akzeptanz ist unser Leben, unser Tun und unsere Welt, in der wir leben, nicht zu bewältigen.« »Aber ist die Akzeptanz an sich so weitreichend?« fragte ich im Ton des Widerspruchs.
    »Darauf kannst du Gift nehmen!« erwiderte Don Juan lächelnd. »Doch die Akzeptanz allein genügt nicht. Wir müssen diese Akzeptanz verkörpern und bis ans Ende leben. Die Zauberer aller Zeiten haben gesagt, der Anblick unseres Todes ist der ernüchterndste Anblick, den es gibt. Der Fehler an uns Menschen ist und ist es seit urdenklichen Zeiten gewesen, daß wir glauben, wir befänden uns im Reich der Unsterblichkeit, ohne das deutlich zu sagen. Wir verhalten uns, als würden wir niemals sterben. Das ist eine infantile Anmaßung. Aber noch verderblicher als das Gefühl der Unsterblichkeit ist das, was sich damit einstellt. Es ist das Gefühl, daß wir dieses unvorstellbare Universum mit unserem Bewusstsein erfassen können.«
    Ich befand mich in der hoffnungslosesten denkerischen Zwickmühle: Don Juans Weisheit auf der einen Seite und Professor Lorcas Wissen auf der anderen. Beides war schwierig, unverständlich, allumfassend und höchst faszinierend. Es blieb mir nichts anderes übrig, als den Ereignissen ihren Lauf zu lassen und ihnen zu folgen, wohin sie mich auch führen würden. Ich hielt mich fortan an Don Juans Rat, Professor Lorca besser kennenzulernen. Ich versuchte das ganze Semester lang, in seine Nähe zu kommen und mit ihm zu sprechen. Ich erschien während der Sprechstunden regelmäßig in seinem Sprechzimmer, aber er hatte scheinbar nie Zeit für mich. Aber auch wenn ich nicht mit ihm reden konnte, so bewunderte ich ihn doch rückhaltlos. Ich fand mich sogar damit ab, daß er nie mit mir reden würde. Es war mir nicht weiter wichtig. Mir ging es um seine Gedanken, die ich in seinen grandiosen Vorlesungen zu hören bekam. Ich berichtete Don Juan alle meine intellektuellen Erkenntnisse. Ich hatte begonnen, viele Bücher über Erkenntnistheorie zu lesen. Don Juan drängte mich mehr denn je, mit der Quelle meiner intellektuellen Revolution einen persönlichen Kontakt herzustellen. » Es ist wichtig, daß du mit ihm redest«, sagte er mit Nachdruck. »Die Zauberer bewundern niemanden in einem Vakuum. Sie reden zu den Leuten. Sie machen ihre Bekanntschaft. Sie schaffen Orientierungspunkte. Sie vergleichen. Dein Vorgehen ist ein wenig kindisch. Du bewunderst ihn aus der Ferne. Das ähnelt sehr einem Mann, der sich vor Frauen fürchtet. Schließlich sind die Hormone stärker als seine Angst und verleiten ihn dazu, die erstbeste Frau anzuhimmeln, die ihm guten Tag sagt.«
    Ich unternahm neue Anstrengungen, Professor Lorca persönlich kennenzulernen. Aber er war wie eine uneinnehmbare Festung. Als ich mit Don Juan über meine Schwierigkeiten sprach, erklärte er, für Zauberer sei jeder Umgang mit Menschen, gleichgültig wie oberflächlich oder unbedeutend die Beziehung sei, ein Kampfplatz. Auf diesem Kampfplatz setzten Zauberer ihre besten Fähigkeiten, ihre beste Magie ein. Er versicherte mir, der Trick, um in solchen Situationen gelassen zu bleiben - was noch nie meine Stärke gewesen war -, bestehe darin, den Gegner zu stellen. Don Juan drückte seine Verachtung für alle diejenigen aus, die so sehr vor Interaktionen zurückschrecken, daß sie zwar mit anderen zusammenkommen, aber im Sinne ihres eigenen psychischen Zustands unterstellen oder ableiten, was vorgeht, ohne wirklich wahrzunehmen, was sich in Wirklichkeit ereignet. Sie interagieren, ohne jedoch jemals Teil der Interaktion zu sein.
    »Sieh dir den Menschen an, mit dem du im Kampf liegst«, fuhr er fort. »Zieh nicht nur an den Fäden, heb den Kopf und blicke in seine Augen. Dann wirst du wissen, daß er ein Mensch ist wie du. Gleichgültig, was er sagt, gleichgültig, was er tut, er hat ebenso große Angst wie

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