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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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erweckte den Eindruck eines Menschen, der nie Sorgen in seinem Leben gehabt hatte. Er trug sehr elegante Schneideranzüge, aber keinen Schlips, was ihm etwas Jungenhaftes verlieh. Krawatten trug er nur dann, wenn er es mit wichtigen Leuten zu tun hatte.
    Bei meiner ersten denkwürdigen Vorlesung bei Professor Lorca sah ich verwirrt und unruhig, wie er viele Minuten, die mir wie eine Ewigkeit erschienen, hin und her ging. Professor Lorca bewegte die dünnen zusammengepreßten Lippen auf und ab und erhöhte dadurch noch die Spannung, die er in dem stickigen Vorlesungsraum mit den geschlossenen Fenstern schuf. Plötzlich blieb er stehen. Er stand in der Mitte des Raumes ganz in meiner Nähe und schlug mit einer ordentlich zusammengerollten Zeitung auf das Podium. Dann begann er zu sprechen. »Man wird nie wissen...«, begann er seinen Vortrag. Alle im Saal machten sich sofort eifrig daran, seine Worte mitzuschreiben.
    »Man wird nie wissen«, wiederholte er, »was ein Frosch empfindet, der auf dem Grund eines Teichs sitzt und die Froschwelt in seiner Umgebung interpretiert.« Seine Stimme besaß eine ungeheure Kraft und Endgültigkeit. »Was also glauben Sie, ist das?« Er hielt die Zeitung über seinen Kopf.
    Dann las er den Studenten einen Zeitungsartikel vor, in dem über die Arbeit eines Biologen berichtet wurde. Der Wissenschaftler, so wurde gesagt, beschreibe die Gefühle von Fröschen, über deren Köpfen Insekten schwimmen.
    »Dieser Artikel beweist die Schlampigkeit des Journalisten, der den Wissenschaftler offensichtlich falsch zitiert«, erklärte Professor Lorca mit der Autorität eines Professors. »Ein Wissenschaftler, wie verschroben seine Arbeiten auch sein mögen, würde sich nie erlauben, die Ergebnisse seiner Forschung zu anthropomorphisieren, es sei denn natürlich, er ist ein Dummkopf.« Mit dieser Einführung begann er einen glänzenden Vortrag über die Limitationen unseres Erkenntnissystems oder des Erkenntnissystems eines jeden Organismus. Er verhalf mir mit seinem Einführungsvortrag zu einer Fülle neuer Gedanken, die er als ganz einfach darlegte und damit praktisch anwendbar machte. Der absolut neue Gedanke für mich war jedoch, daß jedes einzelne Lebewesen auf diesem Planeten seine Welt interpretiert und dabei Daten auswertet, die von darauf spezialisierten Sinnen erfaßt werden. Er erklärte, die Menschen können sich nicht einmal vorstellen, wie es zum Beispiel in einer Welt sein muss, die, wie bei den Fledermäusen, nur von Echoortung beherrscht wird. In einer Welt also, deren Orientierungspunkte sich das menschliche Bewusstsein nicht einmal vorstellen kann. Er zog daraus den unmißverständlichen Schluß, daß es, von diesem Standpunkt aus gesehen, unter den Lebewesen keine zwei gleichen Erkenntnissysteme geben kann.
    Als ich den Vorlesungssaal nach dem eineinhalbstündigen Vortrag verließ, fühlte ich mich erschlagen von Professor Lorcas Intelligenz. Von da an war ich sein überzeugter Bewunderer. Ich fand seine Vorlesungen mehr als anregend und provozierend. Es war noch nie vorgekommen, daß ich mich wie bei ihm auf Vorlesungen im voraus freute. Alle seine Überspanntheiten übersah ich angesichts seiner Faszination als Lehrer und als innovativer Denker auf dem Gebiet der Philosophie. «Als ich die erste Vorlesung von Professor Lorca besuchte, hatte ich seit beinahe zwei Jahren mit Don Juan Matus gearbeitet. Es war mir zu einer festen Gewohnheit geworden, da ich so sehr an Routinen gewöhnt war, Don Juan alles zu berichten, was in meinem Alltag geschah. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit erzählte ich ihm von Professor Lorca. Ich lobte Professor Lorca über alle Maßen und sagte Don Juan offen, Professor Lorca sei mein Vorbild. Don Juan schien meine aufrichtige Bewunderung sehr zu beeindrucken, doch er warnte mich auf seltsame Weise.
    »Bewundere niemanden aus der Ferne«, sagte er. »Diese Art Bewunderung ist die beste Methode, Mythen zu erschaffen. Lerne ihn besser kennen. Rede mit ihm und sieh dir an, was für ein Mensch er ist. Stell ihn auf die Probe. Wenn das Verhalten deines Professors auf seiner Überzeugung beruht, daß er ein Lebewesen ist, das sterben wird, dann wird alles, was er tut, gleichgültig wie seltsam es auch sein mag, wohlüberlegt und endgültig sein. Wenn das, was er sagt, sich nur als leere Worte entpuppt, dann taugt er nichts.«
    Das, was ich für Don Juans Gefühllosigkeit hielt, verletzte mich über alle Maßen. Ich fand, er sei ein wenig

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