Das Wirken der Unendlichkeit
du. Ein solcher Blick macht den Gegner hilflos, und sei es auch nur für eine Sekunde. Dann kannst du zum Schlag ausholen.«
Eines Tages hatte ich Glück. Ich begegnete Professor Lorca im Gang vor seinem Büro.
»Professor Lorca«, fragte ich, »haben Sie einen Augenblick Zeit, um mit mir zu sprechen?« »Wer zum Teufel sind Sie«, erwiderte er ungezwungen, als sei ich sein bester Freund, und er wolle sich nur nach meinem Wohlergehen erkundigen. Professor Lorca war äußerst unhöflich, aber seine Worte wirkten auf mich nicht als Unhöflichkeit. Er lächelte mit schmalen Lippen, als wollte er mich auffordern, zu gehen oder etwas Vernünftiges zu sagen. »Ich studiere Anthropologie, Professor Lorca«, sagte ich. »Ich befinde mich in einer Feldsituation, und dort habe ich die Möglichkeit, das Erkenntnissystem von Zauberern kennenzulernen.« Professor Lorca blickte mich mißtrauisch und unwillig an. In seinen blauen Augen schien nichts als Verachtung zu liegen. Er schob sich die Haare aus der Stirn. »Ich arbeite mit einem richtigen Zauberer in Mexiko«, fuhr ich fort, um ihn zu einer Reaktion zu veranlassen. »Verstehen Sie, er ist ein richtiger Zauberer. Ich brauchte ein Jahr, um ihn dazu zu bringen, mit mir zu reden.«
Professors Lorcas Gesicht entspannte sich. Er öffnete den Mund und bewegte eine überaus zarte Hand vor meinen Augen, als knete er Pizzateig, während er mit mir sprach. Mein Blick fiel unwillkürlich auf seine emaillierten goldgefaßten Manschettenknöpfe, die nicht besser zu seinem grünlichen Blazer hätten passen können. »Und was erwarten Sie von mir?« fragte er. »Ich möchte einen Augenblick mit Ihnen sprechen«, erwiderte ich. »Damit Sie beurteilen können, ob das, was ich tue, Sie interessiert.«
Er hob zögernd und ergeben die Schulter, öffnete die Tür zu seinem Büro und ließ mich eintreten. Ich wusste, daß ich keine Zeit zu verlieren hatte, und gab ihm eine sehr genaue Beschreibung meiner Feldsituation. Ich sagte, ich lerne Dinge, die nichts mit dem zu tun hatten, was in der anthropologischen Literatur über Schamanismus zu lesen stand.
Er bewegte einen Augenblick die Lippen, ohne etwas zu sagen. Als er sprach, wies er auf die Schwäche der Anthropologen im allgemeinen hin, die darin bestehe, daß sie sich nie die Zeit nähmen, alle Nuancen des jeweiligen Erkenntnissystems der Leute zu erforschen, denen ihre Untersuchungen gälten. Er definierte Erkenntnis als ein Interpretationssystem, das den einzelnen durch seine Anwendung in die Lage versetzt, alle Bedeutungsnuancen, aus denen sich das betreffende soziale Umfeld zusammensetzt, mit größten Sachverstand zu nutzen.
Professor Lorcas Worte warfen ein Licht auf das gesamte Spektrum meiner Feldarbeit. Ohne alle Nuancen des Erkenntnissystems der Schamanen im alten Mexiko zu beherrschen, wäre es absolut zwecklos gewesen, einen Gedanken über diese Welt zu formulieren. Professor Lorca hätte nichts weiter sagen müssen, was er gerade ausgesprochen hatte, genügte völlig. Es folgte jedoch ein großartiger Gedankengang über Wahrnehmung und Erkenntnis.
»Ihr Problem«, sagte Professor Lorca, »besteht darin, daß das Erkenntnissystem unserer Alltagswelt, mit der wir alle buchstäblich vom Tag unserer Geburt an vertraut sind, nicht dasselbe wie das Erkenntnissystem der Welt der Zauberer ist.«
Diese Aussage löste eine Euphorie bei mir aus. Ich bedankte mich überschwänglich bei Professor Lorca und versicherte hm, daß es für mich nur eines gab: Ich würde seinen Gedanken unter allen Umständen folgen. »Was ich Ihnen gesagt habe, ist natürlich allgemein bekannt«, erklärte er, als er mich zur Tür brachte. »Jeder, der liest, ist sich dessen bewusst, was ich Ihnen sage.«
Wir verabschiedeten uns beinahe als Freunde. Als ich Don Juan von meiner erfolgreichen Annäherung an Professor Lorca berichtete, reagierte er sehr seltsam. Einerseits schien er sich zu freuen, andererseits war er besorgt.
»Ich habe den Eindruck, dein Professor ist nicht ganz das, was er zu sein behauptet«, meinte er. »Das sage ich natürlich vom Standpunkt eines Zauberers. Vielleicht wäre es klug, jetzt damit aufzuhören, bevor das alles zu kompliziert und zu aufwendig wird. Zur hohen Kunst der Zauberer gehört es zu wissen, wann man aufhört. Ich habe den Eindruck, du hast alles von deinem Professor bekommen, was er dir geben kann.« Ich reagierte sofort mit einer wortgewaltigen Verteidigung von Professor Lorca und machte Don Juan Vorwürfe. Er
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