Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
passiert? Sie wusste, wenn sie nach rechts sah, würde sie Rainer sehen, bewegungslos, das Gesicht blutüberströmt. Sie versuchte sich zu erinnern, aber es gelang ihr nicht, einen Gedanken festzuhalten.
Jemand öffnete mit Gewalt die Fahrertür und beugte sich über sie. »Sind Sie verletzt? Haben Sie Schmerzen?«
»Weiß nicht«, murmelte Jenna. Sie hob die Hand zum Gesicht, doch jemand hielt behutsam ihren Arm fest.
»Nicht bewegen! Hilfe ist unterwegs«, sagte die Stimme beruhigend.
Jenna tat wie ihr befohlen. Sie blieb sitzen, den Kopf an die Stütze gelehnt und wartete. Der Geruch nach Qualm und Benzin wurde stärker, von draußen hörte sie einen lauten Wort wechsel. Ihr Kopf und ihre Rippen schmerzten, das Atemholen bereitete ihr Mühe. Jetzt erst fühlte Jenna Angst in sich hochsteigen.
»Rainer?« Ihre Stimme war mehr ein Krächzen.
Niemand antwortete.
Sie zwang sich, die Augen zu öffnen und vorsichtig den Kopf zu drehen.
»Oh, bitte, bitte nicht …« Rainer sah genauso aus, wie sie es vor ihrem inneren Auge bereits gesehen hatte: bewusstlos, sein Kopf hing auf die Brust, Blut tropfte von einer großen Platzwunde an der Stirn auf sein weißes Hemd und die hellgraue Anzughose.
Das geht nie wieder raus, dachte Jenna. Rainer wird toben.
In diesem Moment hörte sie das Martinshorn, sah die flackernden Reflexionen des Blaulichts. Ihre Windschutzscheibe war gesplittert, das Heck des Golfs vor ihr nur noch in Grundzügen erkennbar. Wo war der Radfahrer? Der war schließlich an allem schuld. Sie sträubte sich vergeblich gegen den Schwindel, der sie erfasste, wie ein warmer Kokon umhüllte und sie lockte, sich fallen zu lassen.
Ich muss doch nach Hause … ich muss wach bleiben …
»Kim …«, flüsterte Jenna.
Keine Antwort.
Dann wurde sie unter Wasser gezogen und versank in der Dunkelheit.
England, Cambridge, 28. November 1894
Es schneite in großen, dichten Flocken seit den Mittagsstunden. Das hatte es um diese Zeit seit Jahren nicht mehr gegeben. Nebel war man in Cambridge gewöhnt – aber Schnee?
Das Personal fluchte, die Herrschaften stöhnten, nur die Kinder hatten mit leuchtenden Augen gestrickte Mützen und Fäustlinge übergestreift und waren ins Freie gestürmt, wo sie nun mit großem Geschrei den Hügel vor dem Anwesen der Kingsleys hinunterpurzelten. Das alte, ehrwürdige Haus aus den großen grauen Steinen, die nach und nach vom Efeu überwuchert wurden, sah mit seiner weißen Mütze aus Schnee irgendwie festlich aus. Das Licht, das da und dort durch die farbigen Butzenscheiben drang, verstärkte den Eindruck noch.
Doch bei den abendlichen Gesprächen im örtlichen Pub, das den bezeichnenden Namen »The drunken beggar« trug, munkelte man hinter vorgehaltener Hand über das Anwesen und das Schicksal seiner Bewohner. Das Ehepaar Kingsley war vor zwei Jahren gestorben und hatte den Besitz seiner einzigen Tochter hinterlassen. Mary Kingsley bewohnte nun das Haus – ohne Mann. War das allein schon nicht gerade standesgemäß, so kam es noch besser. Die junge Kingsley dachte nicht daran, sich einen Mann zu suchen und in ihrer Rolle als Ehefrau aufzugehen! Ganz im Gegenteil: Mary Kingsley war Entdeckerin. Ganz allein hatte sie sich im vergangenen Jahr durch Afrika geschlagen, an Löwenjagden teilgenommen, Wasserbüffel geschossen und versucht, die Tänze der Eingeborenen zu ent schlüsseln. Das war ihre erste große Reise gewesen, und sie hatte jede Minute davon genossen. Die junge Forscherin war groß und schlank, sie hatte ihr helles Haar zu einem praktischen Zopf geflochten, und in ihren warmen braunen Augen brannten Wissbegier und die grenzenlose Freude am Unbekannten. Das war es, was sie antrieb.
Ihren Geburtstag hatte sie in einem Zelt gefeiert, irgendwo in einer Savanne, deren Namen ihr entfallen war. Gerade einmal zweiunddreißig Jahre alt, bereitete sie sich nun in diesen Tagen auf ihre zweite große Reise vor: An Weihnachten würde sie im Auftrag der Britischen Museumsbehörde in Liverpool in See stechen.
Sie trat ans große Fenster der väterlichen Bibliothek und sah hinaus. Die spielenden Kinder dort auf dem Hügel ließen sie schmunzeln, doch sie verspürte keinerlei Bedürfnis, an der Schneeballschlacht teilzunehmen. Sie liebte die schwere feuchte Luft, das Flirren in der sengenden Hitze Afrikas. Dort fühlte sie sich zu Hause. War sie bei ihrer ersten Reise vom Kongo bis nach Nigeria gelangt, häufig durch Gebiete, in die noch nie eine weiße Frau ihren Fuß
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