Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
möglich ist, dann müssen wir sie suchen.«
Mary war bei der Encyclopaedia Britannica angekommen und tippte mit ihrem Zeigefinger auf einen der goldgeprägten Ledereinbände. Sie seufzte, dann gewann die Wissenschaftlerin in ihr die Oberhand. »Woher habt Ihr überhaupt dieses Papier, Mylord?«
»Das ist eine lange Geschichte, zu kompliziert für einen kur zen Besuch«, stellte Covington fest. »Kehren Sie gesund zurück, Mary, dann verspreche ich Ihnen einen langen, abenteuerlichen Abend.« Er stockte und suchte nach Worten. Schließlich murmelte er: »Diese Geschichte muss man sich verdienen, wissen Sie?«
Mary hörte genau hin, aber es war keine Spur von Ironie in seiner Stimme zu hören. »Ich werde nicht meine ganze Zeit dort mit der Suche verbringen. Es wird schon schwierig genug sein, lebend wieder nach Hause zu kommen«, gab sie zu bedenken.
»Aber Sie werden suchen?« Covington klang drängend, zugleich mit einem Mal unsicher.
Mary schaute ihrem Besucher ins Gesicht. Lord Covington war trotz seiner Jahre ein attraktiver Mann geblieben. Blaue Augen unter buschigen Brauen dominierten sein Gesicht, die Zeit hatte die Lachfalten um seinen Mund herum vertieft, und man sah ihm an, dass er gelegentlich der Versuchung der Scones erlag.
»Ich weiß nicht warum, aber ja, ich werde es tun. Ohne Garantie.« Mary lächelte. »Ich konnte noch nie einer Herausforderung widerstehen. Und ich denke, das wisst Ihr.«
Aufatmend ergriff der Lord ihre Hand und drückte einen Kuss darauf. »Passen Sie gut auf sich auf, meine Liebe. Viel Glück – Sie werden es brauchen …«
Vier Wochen später, am stürmischen Nachmittag des 23. Dezember 1894, verließ der Dreimaster Batanga den Hafen von Liverpool. Mary Kingsley stand auf dem Achterdeck und hielt sich an der Reling fest, trotzte dem Wind und der Gischt. Einzelne Strähnen lösten sich aus ihrem Zopf und wehten ihr ins Gesicht. Endlich! Sie war wieder unterwegs! Die schreienden Möwen begleiteten sie noch ein Stück des Wegs mit ihren wag halsigen Manövern und lauten Schreien. Fast senkrecht stürzten sie sich aus großer Höhe immer wieder in Richtung Deck, in der Hoffnung auf Essbares.
Es war klar und kalt, der Wind schwellte die Segel, und die Batanga nahm Kurs Richtung Süden. Die Expedition hatte begonnen.
Gegen zehn Uhr abends, sie hatte mit dem Kapitän und ihren Reisegefährten zu Abend gegessen, stieg Mary erneut hinauf auf das Achterdeck. Der Sternenhimmel wölbte sich über ihr, die Wellen klatschten sanft an den Schiffsrumpf, und der Wind war schwächer geworden. Die Segel knatterten über ihrem Kopf, ansonsten war es still.
Mary legte den Kopf in den Nacken. Dort oben, weit über ihr, erstreckte sich das leuchtende Band der Milchstraße. Der Wächter des Winterhimmels, Orion, stand im Süden. »Auf Wiedersehen, Orion«, rief sie übermütig und lachte über sich selbst.
Bald, schon sehr bald, würde das Kreuz des Südens wieder über ihr flimmern. Die letzten Wochen waren nervenaufreibend und anstrengend gewesen. Bis all die Kisten gepackt und auf das Schiff geladen waren, bis alle Mitreisenden eingetroffen waren, hatte sie hin und wieder ernsthaft daran gezweifelt, dass sie wirklich mit der Flut zwei Tage vor Weihnachten auslaufen würden. Gefährlich knapp, dachte Mary.
Der Steuermann eilte vorbei, nickte ihr einen Gruß zu. Seine Schicht dauerte noch bis Mitternacht, dann würde er abgelöst.
Mary gab den Gruß freundlich zurück, wandte sich um und blickte nach achtern, zurück nach Liverpool, dessen Lichter schon lang nicht mehr zu sehen waren. Der Wind spielte mit ihrem Haar. Sie legte die Hände auf die hintere Reling, fühlte das Holz vibrieren und lauschte dem Gesang der Nacht.
Von einem Moment auf den anderen war sie nicht mehr allein. Jemand – oder besser etwas – verdunkelte den Sternenhimmel. Mary blickte verwirrt nach rechts und links, doch niemand war zu sehen, nicht einmal der Steuermann. Sie schaute nach unten und war fast überrascht, unter ihren Stiefeln das Holz der Planken zu sehen.
Mary fröstelte. Eine eisige Kälte senkte sich über sie, nahm ihr den Atem.
Sie schüttelte den Kopf, versuchte, die Schwärze abzuschütteln. Da ertönte ein zischendes Flüstern, und es schien Mary, als würden die Worte direkt hinter ihrer Stirn entstehen. Leise, gefährlich leise.
»Niemand entkommt mir. Sie nicht – und du nicht.«
Mary stöhnte auf, umklammerte ihren Kopf, doch die Stimme blieb, flüsterte das Gleiche immer und
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