Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
Vielleicht …«
Jenna hätte sie fast nicht gehört, so leise fing Kim wieder an zu sprechen. »Mam – hast du schon mal was erlebt, was du nicht erklären konntest?«
»Was meinst du?«, fragte Jenna verdutzt.
»Hast du schon mal etwas erlebt, wofür es keine vernünftige Erklärung gibt?«
»Hmm …« Jenna zögerte mit der Antwort, während in ihrem Hinterkopf ganz leise eine Alarmglocke zu schrillen begann. »Ich habe gelegentlich ein Déjà-vu. Aber es heißt ja, dass in diesem Moment das Gehirn einfach nicht richtig schaltet. Meinst du so was?« Sie überlegte kurz und kam zu dem Entschluss, Kim nichts von ihren letzten Erlebnissen zu erzählen. Sie glaubte es ja selbst kaum. »Wieso fragst du?«
»Och, nur so. Wir haben in der Schule darüber geredet. In Ethik«, präzisierte Kim und griff nach ihrem Glas mit Cola, das auf dem Couchtisch stand.
Jenna zog eine Augenbraue hoch. »Ethik, soso«, wiederholte sie, und der Zweifel in ihrer Stimme war unüberhörbar. Dann sah sie in Kims Gesicht. Es spiegelte für eine Sekunde absolute Verzweiflung wider. Im nächsten Augenblick hatte sich ihre Tochter wieder im Griff und schaute so unbeteiligt wie immer.
Jenna erstarrte und merkte, wie ihre Hände zu zittern begannen. Kim hatte ihr in diesem einzigen unmaskierten Moment mehr verraten als in all den letzten Monaten: Ihre Tochter hatte Angst.
Furchtbare Angst.
Jenna versuchte krampfhaft, sich nichts anmerken zu lassen. Was war das gerade gewesen? Ein Blick in den Abgrund? Was verbarg Kim vor ihr? Sie war so bleich, nur ihre Augen glänzten, schienen das einzig Lebendige in ihrem Gesicht zu sein.
Kurz darauf putzte Kim sich die Zähne und starrte nachdenklich in den Badspiegel. Ihre Locken standen wirr vom Kopf ab und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, an denen morgen selbst der teure Concealer, den sie sich vor einigen Wochen geleistet hatte, scheitern würde. Ihre Mutter hatte sie vorhin so seltsam angesehen, dabei war sie sicher, eine gute Vorstellung geliefert zu haben. Über der Heizung hing ihr Flanellpyjama. Sie fror bis auf die Knochen und genoss jetzt die Wärme, die der Stoff auf ihrer nackten Haut verbreitete. In der Küche räumte Jenna noch auf.
»Mam? Ich geh ins Bett.«
»Jetzt schon? Wir könnten doch noch einen Film an schauen …« Jenna stellte zwei Gläser in den Schrank, dann drehte sie sich um und schloss ihre Tochter in die Arme. »Gibt es etwas, das du mir erzählen willst?«
Kim legte den Kopf auf ihre Schulter. Jennas Haar duftete nach ihrem Rosenshampoo. »Nein«, sagte sie leise.
Jenna nahm Kim bei den Schultern und hielt sie ein Stück von sich weg. »Unerklärliche Erlebnisse, hm?« Sie ließ die Frage in der Luft hängen und strich Kim kurz über die Wange. »Ich kann dich nicht zwingen, mir zu erzählen, was dich bedrückt. Aber vielleicht kannst du mit Alex reden? Bitte …«
Kim nickte. »Gute Nacht, Mam.«
Jenna gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Gute Nacht, Kleine.« Ihre Stimme klang rau.
Für einen kurzen Moment war Kim versucht, ihr alles zu erzählen. Aber sie bremste sich im letzten Augenblick ein. Sie hatte Jenna schon genügend Probleme mit ihren Klausuren beschert – dieses musste sie allein lösen. Solche Ausrutscher wie gerade eben durfte es nicht mehr geben.
Langsam schlenderte sie hinüber in ihr Zimmer. Die Lampe auf der anderen Straßenseite beleuchtete ihre Bücherwand. Kim hatte die Hand schon am Vorhang, um ihn zuzuziehen, als sie stutzte. Da unten, im Hauseingang gegenüber, bewegte sich ein Schatten. Sie wartete, doch nichts rührte sich mehr. Nach ein paar Atemzügen gab sie es auf und zog den Vorhang mit einem Ruck vor ihr Fenster. Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich auf ihr Bett sinken. Die Kopfschmerzen, die sie seit Matthews Massage verschont hatten, klopften leise, aber hartnäckig wieder an ihre Schläfen.
Dass sich der Schatten in diesem Moment wieder bewegte und gleich darauf endgültig mit der Dunkelheit verschmolz, sah Kim nicht mehr.
Kaum war sie ins Bett gesunken, schlief sie tief und fest.
Samstag, 4. Februar
»O Mann, du Penner, fahr doch auf die rechte Spur«, maulte Jenna und schlug mit einer Hand aufs Lenkrad.
Rainer, der neben ihr saß, grinste. »Lass es raus, Jenna. Das ist gut für die Seele. Nur bitte nicht zu brutal. Toyotas sind nicht für die Ewigkeit gebaut.«
Jenna schüttelte genervt den Kopf. »Schau dir das an: E-Klasse, Umland-Kennzeichen und mit sechzig auf der linken Spur
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