Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
es eine junge Frau sein. Neugierig wartete Mary, bis sie ihr Gesicht erkennen konnte. Sie mochte etwa in ihrem Alter sein, trug das für die Einheimischen übliche braune, knöchellange Gewand und war barfuß. Die spitzen Steine schienen ihr nichts auszumachen, leichtfüßig lief sie die letzten Meter auf die Höhle zu. Ein paar Schritte entfernt hielt sie inne und lächelte. Dann streckte sie ihre Hand aus und bedeutete Mary, ihr zu folgen.
Die junge Engländerin zog die Augenbrauen hoch. Was sollte sie tun? Die Frau schien nicht gefährlich, dennoch – ihr einfach nachzulaufen war vielleicht nicht die klügste Idee.
Doch nun legte die Frau die Hände zusammen in einer Geste, die Mary sofort wiedererkannte: Die Schale! Ihre Knie begannen zu zittern, ihr Herz raste. Sollte sie wirklich am Ende ihrer Suche angelangt sein? Wegen eines Sandsturms? Sollte es sein, dass sie, Mary Kingsley, diejenige fand, nach der so viele seit Jahrhunderten suchten?
Sie lächelte zaghaft, dann entschloss sie sich, der schwarzen Frau zu folgen.
Sie liefen zwei Tage und zwei Nächte.
Drei Tage später standen die restlichen Expeditionsteilnehmer wieder etwas wackelig auf den Beinen und mussten feststellen, dass ihre Leiterin nicht mehr aufgetaucht war. Die einheimischen Führer waren durchwegs der Meinung, die Geister hätten die weiße Frau geraubt. Es sei eben nicht gut, sie herauszufordern.
Die Suche nach Mary Kingsley, an der sich in den folgenden Jahren das Militär, andere Expeditionen und einige der bekann testen Afrika-Forscher beteiligten, sollte erfolglos bleiben. Sie blieb spurlos verschwunden.
Immer noch Sonntag, 5. Februar
Im Münchner Westend war es mittlerweile dunkel geworden, nur die Straßenlaternen tauchten die Stadt in rötlichgelbes, warmes Licht. Ein frischer Wind hatte eingesetzt und vertrieb die tief hängenden Schneewolken, die seit Tagen über der Stadt gehangen und dem Himmel ein Einheitsgrau verpasst hatten. Nun segelten nur noch Wolkenfetzen über den Himmel, hie und da blinkte sogar ein Stern auf.
Kim saß regungslos im Schneidersitz auf dem Sofa, die bunte Wolldecke bis unters Kinn hinaufgezogen. Sie starrte in die Flamme der Kerze, die still auf dem Wohnzimmertisch vor sich hin brannte und nur ab und zu leicht im Luftzug flackerte. Als sie das letzte Mal in den Spiegel gesehen hatte, war sie erschrocken. Ihr Gesicht war gerötet, die Augen verweint, die dunklen Locken hingen ihr strähnig ins Gesicht. Die letzten zwei Tage hatten sichtlich ihre Spuren hinterlassen.
Sie wiegte sich hin und her, das beruhigte. Immer und immer wieder sah sie Carolin vor ihrem inneren Auge über das Balkongeländer steigen, sah sie fallen, hörte den Aufprall und sah sie schließlich unten auf dem Asphalt liegen, in einer Blutlache, die erschreckend rasch größer wurde. Es war wie ein Film, der immer wieder von Neuem begann, in Schleife blieb, bei dem sie die Stopptaste nicht fand. Nie mehr könnte Kim auf dem Balkon stehen, ohne an Carolin zu denken.
Doch da war noch etwas, das sich festgebrannt hatte. Carolins letzte Worte.
Es wird noch viel schlimmer für dich werden. Du wirst dir wünschen, nie wieder zu träumen. Wenn ich gehe, bleibt dir nur noch die Angst. Sie hörte die Worte wieder und wieder, bis sie in ihrem Kopf widerhallten, sich verstärkten wie ein Echo, jeden klaren Gedanken unmöglich machten.
Eine Botschaft, hatte Carolin gesagt. Wusste sie, was sie sagte? Sah so eine Botschaft aus? Und von wem, um Gottes willen? Was sollte die Botschaft bewirken, außer dass Kim vor lauter Schrecken nicht mehr ein noch aus wusste?
Und Carolin tot war …
Kim blickte auf ihre ineinander verkrampften Hände, als könnte sie dort die Antwort finden. Aber da war nichts außer verkrampften Fingern und abgekauten Nägeln. Ihre Welt bestand nur noch aus Angst, Verwirrung und Schmerz, und kein Weg führte hinaus.
Der Weg führte vielmehr in einen Abgrund.
Die Tränen rannen ihr erneut über die Wangen, lautlos schluchzte sie vor sich hin. Hieß es nicht, dass Tränen heilten, sie irgendwann versiegten und die Welt dann wieder heller aussah?
Irgendetwas lief hier ganz entsetzlich schief. Die Welt wurde immer dunkler und kälter.
Alex war den ganzen Tag bei ihr geblieben, hatte sie wie ein kleines Kind an der Hand genommen und durch das Verhör im Präsidium begleitet. Kommissar Sandberg hatte sie bereits erwartet und eine Frage nach der anderen auf sie abgefeuert.
Wie gut sie Carolin Gruber gekannt habe? Nicht
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