Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
gut.
Ob Carolin traurig und deprimiert gewirkt hatte? Nein.
Ob Carolin sich in letzter Zeit verändert hätte? Auch nein.
Ob Kim sich einen Grund vorstellen könne, warum Carolin in die Tiefe gesprungen war und dann noch ausgerechnet von ihrem Balkon? Keine Ahnung.
Kim hatte nur einsilbige Antworten gegeben und lediglich genickt, als Alex in ihrem Namen das Protokoll unterschreiben sollte. Sandberg war mit ihren Antworten mehr als unzufrieden gewesen. Er begleitete sie der Form halber aus dem Präsidium an der Ettstraße hinaus.
»Passen Sie auf sich auf, Kim«, sagte er nur. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle Sandberg noch eine Bemerkung machen, doch er sah ihr und Alex nur schweigend nach. Er würde sie anrufen, hatte er gemeint, sollten noch Fragen auftauchen.
Aber Kim hatte keine Antworten mehr.
Jetzt stand Alex im Flur, presste sein Handy ans Ohr und versuchte, Jenna zur Vernunft zu bringen.
Obwohl ihre Rippen noch schmerzten und sie gelegentlich Sternchen sah, wenn sie sich zu schnell aufrichtete – als Alex ihr von dem grausigen Vorfall in ihrer Wohnung berich tete, hatte sie beschlossen, sich kurzerhand selbst zu ent lassen.
»Jenna, bleib, wo du bist und erhol dich noch eine Nacht. Ich kümmere mich um Kim, das weißt du doch«, sagte Alex beruhigend.
»Alex!« Jenna schrie fast. »Sie braucht uns jetzt beide. Und die lassen mich hier frühestens morgen offiziell raus. Nach der dämlichen Visite. Also nehm ich jetzt meine Tasche und setz mich in ein Taxi. Meinst du, die Schwestern halten mich auf? Pah.«
Alex hörte ungeduldiges Schnaufen, dann das altbekannte panische Piepsen eines medizinischen Überwachungsmonitors, dem sein Überwachungsobjekt abhandengekommen war.
Schon sagte seine Frau mit zufriedenem Unterton: »Na bitte. Die Verkabelung habe ich schon mal abgezogen. Und stehen kann ich auch. Tut nicht mal richtig weh. Moment!« Das Piepsen verstummte.
»Du stehst schon wieder unter Schock, Jenna«, protestierte Alex. »Warte wenigstens bis morgen.«
»Vergiss es. Ich komme heim. Bis gleich!« Damit legte Jenna auf und ließ einen entnervten Ehemann am anderen Ende der Leitung zurück. Der warf sein Handy heftiger als nötig auf die Ablage im Flur.
»Jenna kommt nach Hause«, sagte er und verdrehte die Augen, als er wieder ins Wohnzimmer trat. Dann sah er, wie Kims Schultern zuckten. Er setzte sich neben seine Tochter und nahm sie samt Wolldecke in die Arme.
»Kim, Kleine, willst du darüber reden? Ich habe das Gefühl, dass du dem Kommissar nicht wirklich alles gesagt hast und etwas loswerden musst.« Er hob ihr Kinn an und sah ihr forschend ins Gesicht. »Hm? Stimmt’s oder hab ich recht?«
Kim schüttelte, immer noch von Schluchzern unterbrochen, den Kopf. »Nein … nicht reden. Ich kann einfach nicht …« Sie wandte sich ab, schwieg verzweifelt.
Alex griff hinter sich, knipste die Stehlampe an und drehte Kim mit sanfter Gewalt zu sich herum, zwang sie damit, ihn anzuschauen.
Kim schloss erschöpft die Augen und traf im Bruchteil einer Sekunde ihre Entscheidung: Sie würde Alex da heraushalten.
Es gab nichts zu erzählen.
Nicht jetzt, nicht hier. Also – ablenken …
»Es ist nur, dass ich … Wie Carolin da unten lag …« Sie zog die Nase hoch. »Wie soll ich das jemals vergessen?«
Alex nahm ihre Hände in seine. »Das kannst du nicht. Du wirst es nicht vergessen, Kim. Aber es wird verblassen und mit der Zeit weniger wehtun. Versprochen.«
Kim suchte in der Hosentasche nach einem Taschentuch, fand keines, wischte sich stattdessen mit dem Ärmel über das Gesicht und griff dann wieder nach Alex’ Hand.
»Und außerdem«, fuhr Alex gedankenvoll fort, »ist Carolin nicht damit gedient, dass du sie vergisst. Wir wissen nicht, warum sie das getan hat. Vielleicht werden wir das auch nie erfahren. Aber jemand muss sich an sie erinnern. Dafür sorgen, dass man sie nicht vergisst. Und das ist deine Aufgabe. Nicht heute, nicht morgen. Aber in Zukunft. Wenn du dafür bereit bist.« Er verstummte und hielt Kims Hand.
Kims Schluchzen verebbte. Die Worte ihres Vaters klangen in ihr nach, berührten eine Saite in ihr, die sacht zu schwingen begann. Auch wenn sie noch nicht wusste, worum es eigentlich ging, warum Carolin hatte sterben müssen, wem sie selbst sich anvertrauen konnte – dass sie diejenige sein könnte, die den Gedanken an Carolin am Leben hielt, war wie ein Stück Treibholz, an das sie sich klammerte.
»Danke, Alex«, sagte sie leise und stand
Weitere Kostenlose Bücher