Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
paar zögerliche Sonnenstrahlen tanzten durch die Küche. Es war wieder wärmer geworden, die Schneeberge auf den Straßen wurden merklich kleiner. Erfahrungsgemäß fiel damit auch der Startschuss für die ersten Cafés, den Aperol Sprizz draußen zu servieren. Es genügte, wenn an einem solchen Tag die Sonne schien und die Temperatur über den Gefrierpunkt kletterte. Bei Sonne gibt es keinen Grund dafür, drinnen zu sitzen, hieß die Münchner Devise, und die Kellner kramten Decken für die ersten mutigen Sonnensucher hervor.
Kim hatte nach Carolins Tod den Montag zu Hause verbracht und dann beschlossen, wieder in die Schule zu gehen. Gegen Mittag würden die Oberstufenschüler eine Gedenkfeier für Carolin abhalten, den Nachmittag bekamen sie frei. Sie hatte mit Jenna gefrühstückt, sie kurz umarmt und war mit langen Schritten die Treppe hinuntergelaufen, um die nächste U-Bahn zu erwischen.
Jenna hingegen war noch krankgeschrieben. »Du kurierst dich vernünftig aus«, hatte Klaus seiner Grafikerin gestern am Telefon in strengem Ton befohlen. »Nächste Woche kannst du wiederkommen. Rainer wird noch eine Weile zu Hause bleiben, da könnte ich dich gut gebrauchen. Vor allem müssen wir den Vertrag mit dem Berliner Filmfritzen festmachen. Das ist dann deine Aufgabe. Wenn du dich ablenken willst, kannst du ein paar lustige Cartoons für meinen Neffen zeichnen. Aber mehr nicht.«
»Ist gut«, hatte Jenna erwidert. »Grüß bitte Rainer von mir. Ich war kurz bei ihm, bevor ich mich selbst entlassen habe. Schließlich bin ich schuld …« Sie schluckte. Rainer hatte so blass und müde ausgesehen … In betont munterem Tonfall hatte sie hinzugefügt: »Und sag ihm, es tut mir leid um sein Auto.«
Klaus hatte leise gelacht. »Das Auto ist es nicht. Aber sein Anzug – um den weint er wirklich. Soll ich dir ein paar schöne DVD s aus unserer Sammlung vorbeibringen? Notting Hill, zum Beispiel? Der Film hat heilende Kräfte.«
»Nicht nötig«, hatte Jenna erleichtert zurückgegeben, die sich gerade vorgestellt hatte, wie die beiden Herren selig schluchzend Hugh Grant bis zum Happy End begleiteten. »Ich habe noch eine ganze Staffel Grey’s Anatomy, zwei Tafeln Schokolade und ein Päckchen Schmerztabletten. Ich glaube, das reicht.«
Doch als sie auf dem Sofa saß und versuchte, sich in eine heile Welt zu versenken, musste sie feststellen, dass es keinen Sinn hatte. Ihre Gedanken kreisten unablässig um Kim und Carolin – zwei Mädchen, die jetzt durch einen schrecklichen Tod miteinander verbunden waren.
Rund fünfzig Oberstufenschüler hatten in der Aula Aufstellung genommen. Weiter vorn, auf einem mit einem dunkelblauen Tischtuch bedeckten Pult, war ein Bild von Carolin aufgestellt. Es war ein fröhliches Foto. Carolin hatte dem Fotografen übermütig zugelacht, ihre blonden Haare waren zerzaust, hinter ihr war ein blühender Forsythienbusch zu sehen. Nun trug es eine schwarze Schleife, und zwei große Kerzen brannten rechts und links davon. Im Hintergrund ertönte leise Klaviermusik.
Dr. Berger, heute in Hellblau, hielt eine kurze Rede, in der sie betonte, wie beliebt Carolin gewesen sei. »Doch Sie müssen bei aller Trauer wieder zum Alltag zurückkehren«, schloss sie. Obwohl sie mit leiser, betrübter Stimme sprach, waren ihre Blicke, die unablässig über die Schülerschar schweiften, wie immer kalt wie Eis.
Kim glaubte ihr kein Wort.
Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und starrte ihre Lehrerin mit einer Mischung aus Trauer und Verachtung an. Sie trug schwarze Jeans, Stiefel und einen schwarzen engen Rollkragenpullover, ihre Haut war blass, fast durchscheinend – die dunkelrot geschminkten Lippen waren das einzig Lebendige an ihr.
Nun trat sie vor. Hatte jetzt jemand erwartet, dass sie erzählte, was sie gesehen hatte, wurde er allerdings enttäuscht. Dass Carolin vom Balkon der Winters’ gesprungen war, hatte sich nicht geheim halten lassen. Jeder wusste es, und so blickte jeder auf Kim, als könnte sie Antworten geben.
Kim wandte sich an die Carolin auf dem Foto. Sie dachte an das, was ihr Vater ihr gesagt hatte. Dass sie dafür verantwortlich war, die Erinnerung an Carolin zu bewahren. Sie holte tief Luft, dann klang ihre Stimme durch die Aula, fest und sicher. »Ich kannte dich nicht wirklich gut, Carolin. Wir waren nie Freundinnen. Und vielleicht werde ich nie erfahren, was dich dazu gebracht hat, dein Leben zu beenden. Aber ich werde dich nicht vergessen, Carolin. Wir werden dich
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