Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
Gedemütigt? Missbraucht? Sie war sich nicht sicher. Aber sie würde es herausfinden.
Irgendwann gestern Nacht – die Furcht einflößende Gestalt war längst im Haus verschwunden – war das Auto doch ange sprungen, die Straßenlampen hatten wieder aufgeleuchtet, und Jenna war wie der Teufel nach Hause gefahren, ohne sich noch einmal umzublicken. Sie hatte Kim, die immer noch mit den Zähnen klapperte, nach oben gebracht und wortlos mitsamt Teddy und einer Wärmflasche in ihr Bett verfrachtet.
Äußerlich schien ihre Tochter nicht verletzt zu sein. Aber die Erschöpfung und die Benommenheit standen ihr ins Gesicht geschrieben.
Schließlich hatte sich Jenna einen großen Scotch eingeschenkt – ein Relikt von Alex –, das Glas auf einen Zug geleert und sich dann neben Kim gelegt. »Schlaf«, hatte sie leise gesagt und ihre Tochter in die Arme genommen. »Wir reden morgen.«
Diesmal würden sie wirklich miteinander reden müssen. Sie würde keine Ausflüchte mehr zulassen, der Sache auf den Grund gehen. Doch jetzt war Jenna erst einmal froh, dass Kim wieder bei ihr war. Ob wirklich heil, das würde sich noch her ausstellen. Grimmige Entschlossenheit machte sich in ihr breit. Sie stieg vorsichtig aus dem Bett, zog Kim die Bettdecke über die Schultern, strich ihr sanft über die Wange und schlich auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer.
Leise tapste sie in die Küche und machte sich einen ersten Kaffee. Die Jalousie des Küchenfensters filterte das Licht der Straßenlampe in helle Streifen. Jenna öffnete die Balkontür und schnupperte. Es roch anders, nicht mehr so eisig. Gestern hatte der Föhnwind eingesetzt, fegte von Italien kommend über die Alpen hinweg, ließ den Schnee schmelzen und trug eine Ahnung des kommenden Frühlings mit sich.
Die einfachen Dinge zuerst, beschloss sie, holte ihr Notebook vom Wohnzimmer in die Küche und startete das Betriebssystem. Den Kaffee in der Hand, setzte sie sich auf einen der Küchenstühle, den rechten bloßen Fuß auf die schmale Bank gestemmt, fuhr den Browser hoch und öffnete ihr E-Mail- Programm. Bis ihr Rechner das WLAN -Signal fand, dauerte es wie immer ein paar Sekunden. Jenna nippte am Kaffee und starrte auf die Wand. Die Raufasertapete sollte auch mal wieder gestrichen werden, dachte sie. Vielleicht diesmal farbig? Oder ein paar Comicfiguren? Vorzugsweise auf der Flucht? Krampfhaft versuchte sie jeden Gedanken an den gestrigen Abend in einen kleinen Winkel ihres Gedächtnisses zu verbannen – zumindest für die nächste halbe Stunde. Dann würde sie nicht mehr darum herumkommen, es erneut zu durchleben.
Die erste E-Mail war von Anne. Ihre beste Freundin machte London unsicher:
… ich bin mit Nicholas seit drei Tagen hier in London, und wir amüsieren uns prächtig. Na ja, um ehrlich zu sein, er amüsiert sich, und ich langweile mich. Architekten sind ja noch schlimmer als Politiker, wenn sie Reden halten. Die fangen im Keller an und kommen nicht mal bis in den ersten Stock. Grausam.
Liebe Jenna, wir müssen uns sehen, wenn wir zurück sind. Ich mache mir Sorgen. Du bist meine beste und älteste Freundin – weißt du, dass wir uns jetzt über 30 Jahre kennen? Das sollten wir feiern! Und ich habe das Gefühl, dass du mehr mit dir herumträgst, als du uns wissen lässt. Was war denn neulich bei unserem Spieleabend mit dir los? Dir geht’s nicht gut, hör bloß auf, mir was vorzumachen.
Ich ruf dich an, wenn wir zu Hause sind.
Dein Ännchen
Jenna las die Nachricht mit einem leichten Stirnrunzeln und tippte eine kurze Antwort. »Freue mich auf dich, Ännchen. Melde dich, wenn ihr wieder da seid.« Dann öffnete sie die nächste Nachricht.
Sie war mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache, sonst hätte sie gleich gestutzt. So las sie mit wachsender Verwirrung den kurzen Text:
Sehr geehrte Jenna Winters,
wir senden Ihnen den Anhang zur Kenntnisnahme.«
Mit freundlichen Grüßen.
Ein Freund.
Der Anhang war ein Video. Jenna schüttelte verwundert den Kopf, ließ den Virenscanner darüberlaufen, der nichts Verdächtiges meldete. Also startete sie die Datei.
Anne! Jenna zog überrascht die Luft ein. Die Aufnahme war leicht verwackelt, wohl mit einem Handy aufgenommen. Sie sah ihre Freundin auf ein Café zulaufen, ihre dunkelbraunen Locken wippten, sie balancierte einen roten Schirm. Ohne Ton, wie in einem Stummfilm, allerdings in Farbe. Da war auch Nicholas, der sie begrüßte und mit ihr plauderte. Dann ging alles ganz schnell. Splitter regneten
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