Das Wispern der Schatten - Roman
Auge des Heiligen.
Ein Kreischen, das Körper und Verstand durchdrang. Der Heilige, der sich aufbäumte. Sprudelndes, spritzendes Blut. Um sich schlagende Gliedmaßen, ein zuckender Kopf. Geblendet.
Mit Galle und Furcht in der Kehle wich Jillan so weit zurück, wie er konnte. Er musste aufstehen.
» Komm, steig auf meinen Rücken!«, hustete ein mitgenommener Aspin und beugte sich zu ihm.
Jillan zog sich hoch. » Warte! Das Schwert!«
Aspin trug ihn zu der Waffe und bückte sich noch einmal, sodass Jillan sich danach recken konnte.
Der Heilige schlug mit ausgestreckten Armen und zu Klauen verkrümmten Fingern um sich. Aspin duckte sich und blieb außer Reichweite. Der Heilige hielt plötzlich inne und lauschte auf Bewegungen. » Ich kann euch atmen hören«, sang er mit dem Wahnsinn verfallener Stimme. » Ich kann euch riechen!« Seine Zunge geiferte. » Ich kann euch in der Luft schmecken. Kommt her. Zu mir.«
» Los, los!«, drängte Jillan.
Halb hinkend, halb tanzend gelangte Aspin zur Treppe hinüber, und dann waren sie auf dem Weg nach oben und fühlten die kühle Luft in ihre Lungen strömen, als wäre es der erste Atemzug nach vielen Minuten.
» Kommt zurück!«, lockte der Heilige. » Jillan, ich habe deine Eltern in Hyvans Kreuz. Ich lasse sie hinrichten, wenn ich dort ankomme, sofern du dich mir bis dahin nicht gestellt hast. Komm her. Ihr Tod wird unschön sein und sich lange hinziehen.« Eine kurze Pause. Dann ein gebrüllter Befehl, der vom Himmel widerhallte: » Helden, erwacht! Zu den Bestrafungskammern! Hauptmann, weckt die Männer! Bewacht die Tore!«
» Schnell, da entlang«, flüsterte Jillan Aspin ins Ohr.
» Aua! Ich kann dich nicht hören. Nimm das andere Ohr.«
» Tut mir leid… Da lang. Zu dem Wagen mit dem Pferd.« Jillan sog Luft ein. » Du musst ihn für uns lenken. Zum Ende der Straße und dann nach links, zum kleineren Westtor.«
» Aber die Wachen, Jillan…«
» Wir sind die Söhne des Schmieds. Er liegt auf der Ladefläche des Wagens da, pestkrank… Ich habe ihn bei der Heilerin gefunden, als ich zu ihr gegangen bin, um ihr ein Schlafmittel für die Wachen abzukaufen. Man hat uns befohlen, ihn aus der Stadt zu bringen, bevor er noch jemanden anstecken kann… Die lassen uns ganz schnell durchs Tor, du wirst schon sehen. Aber der Heilige wird mit den Augen der Wachen sehen und wissen, welchen Weg wir eingeschlagen haben, also müssen wir das Pferd dazu bringen, so schnell wie möglich zu laufen, wenn wir erst aus der Stadt sind, und dann den Wagen von der Straße wegbringen, so schnell wir können.«
» H…hat er wirklich die Pest?«
» O ja!« Jillan lachte, albern vor Müdigkeit und Erleichterung.
» Oh, gut. Ich war schon in Sorge, dass es jetzt langweilig werden würde.«
» Na, du bist doch gerade erst zu Besuch ins Reich gekommen, nicht wahr? Es ist nur höflich, dir ein bisschen Unterhaltung zu verschaffen. Komm schon! Kannst du nicht schneller laufen?«
» Ich glaube, mit der Luft in diesem stinkenden Flachland stimmt etwas nicht.«
» Aber anscheinend hindert sie dich nicht am Reden.«
» Dein Geplapper lässt mich wünschen, ich wäre auf beiden Ohren taub.«
» Mach nur so weiter, dann wird dir der Wunsch vielleicht erfüllt.«
» Hm. Vielleicht lasse ich dich einfach für den Heiligen hier liegen.«
» Was, obwohl wir doch gerade solchen Spaß haben?«, kicherte Jillan und weinte dann vor Erschöpfung. Ihm fielen die Augen zu, und alles wurde dunkel.
Prediger Praxis klammerte sich an Torpeth und bemühte sich, die Luft anzuhalten. Der heidnische Heilige stank schlimmer als das Maultier, auf dem sie ritten. Die Nacktheit und Unsauberkeit des heiligen Mannes entsprachen genau dem, was der Prediger von den unzivilisierten Heiden erwartet hatte, aber mit einem von ihnen in direkten Kontakt zu kommen, übertraf sicher das schlimmste Leid, das in der gesamten Geschichte des Reichs je ein Heiliger hatte erdulden müssen.
Als Torpeth darauf bestanden hatte, mit dem Prediger auf seinem Maultier zu reiten, hatte Praxis natürlich rundheraus abgelehnt– nur denjenigen, die in der Zivilisation eine hohe Stellung bekleideten, stand das Recht zu, auf dem Rücken geringerer Wesen zu reisen. Aber das verräterische Maultier hatte sich geweigert, sich auch nur einen Zoll von Torpeths Behausung wegzubewegen, bis das magere Gesäß des heiligen Mannes auf den Schulterblättern des Tieres gehockt und er mit der Zunge geschnalzt hatte, um das Maultier wissen zu
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