Das Wispern der Schatten - Roman
an ihrem Verstand zu nagen begann, vollführte sie Übung um Übung, als wäre sie wieder Novizin, nur um ihr Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten, die ruhige Mitte, die sowohl das Selbst als auch die Abwesenheit des Selbst ist: in den Wachtraum eintreten. Abermals unendlich werden. Die Anforderungen des körperlichen Gefäßes verschwinden, weil es nicht länger das Gefäß ist. Ja, sie hatte die Kontrolle über ihre Region verloren, und ja, sie hatte dem Geas gestattet, sich dort einzunisten, aber sie hatte auch begonnen, das Geas sichtbar zu machen und den Jungen ihrem Willen zu unterwerfen. Azual hielt die Eltern des Knaben als Geiseln und schien in den Bergen unerwartete Fortschritte zu machen. Und der Sonderbare war im Spiel. Alle Mechanismen ihres Willens und ihrer Herrschaft über die Region waren immer noch vorhanden. Nun kam es darauf an, diesen Willen kraftvoller durchzusetzen, ihre Wünsche den Gedanken des Volkes und damit sogar den einfachsten alltäglichen Verrichtungen aufzuprägen, der gesamten Geschichte und Wesensart dieser Welt und ihrer Energien ihren Stempel aufzudrücken.
» Azual!«, rief sie durch den Wachtraum.
Heilige Erlöserin, antwortete ihr der überraschte und nervöse Gedanke. Was ist dein Wille? Befiehl!
» Du hast bis jetzt versagt.«
Zögern. Furcht. Ja, heilige Erlöserin. Es ist unentschuldbar.
» Du bist unzulänglich, Dämon, der Heiligkeit unwürdig.«
Beschämung. Verzweiflung. Selbsthass. Ja, heilige Erlöserin.
» Der Fehler muss zugleich bei mir liegen, da ich dich überhaupt erhöht habe.«
Nein, heilige Erlöserin! Vergib mir, aber ich muss dich zu Anfang auf irgendeine Weise getäuscht haben.
» Ruhe!« D’Shaa musste zugeben, dass sie seine Ergebenheit trotz allem bewunderte. Daran hatte er es nie fehlen lassen. » Abgesehen von deiner Täuschung– wie konnte das hier geschehen? Es müssen Verräter gegen uns arbeiten oder Unschuldige unwissentlich gegen uns eingesetzt werden. Wer oder was benutzt den Jungen? Da du es noch nicht weißt, hastdu wohl weder scharfsinnig noch gründlich genug gesucht.«
Zweifel. Gereiztheit. Argwohn. Heilige Erlöserin, ich bin weder weise, noch verstehe ich mich darauf, die Wahrheit der Vergangenheit zu ergründen, aber der Junge hat eindeutig Hilfe von seltsamen Kräften erhalten, deren Ursprung ich nicht feststellen kann. Seine Eltern stammen aus Neu-Heiligtum, aber was ist der Ursprung der Macht, die sich ihrer bedient hat? Ich habe die meisten von denen vernichtet, die diese Macht gelenkt hat, aber ich glaube jetzt, dass ich die Macht selbst nicht auslöschen konnte. Durch mich musst du den Soldaten Samnir gesehen und gehört haben, der von jemand anderem zu den Erlösern gezogen wurde. Vielleicht war er ein Spion eines anderen Heiligen. Außerdem war da noch der merkwürdige Krieger, der in Erlöserparadies gefangen genommen und von dem Jungen befreit worden ist. Ich habe den Krieger nicht erkannt und weiß nicht, woher er kommt. Wie kann er in irgendeiner Verbindung mit dem Jungen stehen, wenn der Junge doch zum ersten Mal Gottesgabe verlassen hat? Außerdem ist da noch die Pest, die alles zusätzlich erschwert.
» Eine ganze Reihe von Kräften steht gegen uns«, befand D’Shaa. » Alle wirken durch den Jungen und in seinem Umkreis. Er ist ein mächtiger ordnender Angelpunkt für sie, doch er hält sich immer noch im Netz meiner Region und meines Willens auf, und ich werde dir die nötigen Anweisungen erteilen, damit es auch so bleibt. Doch zuvor gibt es etwas, das du wissen solltest. Ich habe den Sonderbaren losgelassen, und er wird bald in meine Region gelangen. Er stellt sicher, dass Kräfte, die von dem Jungen abhängig sind, letztendlich den Erlösern anheimfallen, wenn auch vielleicht nicht unmittelbar dir und mir.«
Erstaunen. Verunsicherung. Entsetzen. Es gibt den Sonderbaren wirklich?
» Der Beschaffenheit dieser Welt gemäß muss es ihn geben.«
Ich habe nur Bruchstücke und zusammengefasste Halberinnerungen über ihn gelesen. Ich dachte, er sei bloß ein heidnischer Mythos. Wenn es ihn wirklich gibt …
» Es reicht, Azual. Du wirst nicht über solche Dinge nachgrübeln, denn sie übersteigen dein Verständnis, und du kennst die Gefahren sehr gut, die daraus erwachsen, etwas nur teilweise zu verstehen. Zugleich wirst du jede Begegnung und jeden Zusammenstoß mit dem Sonderbaren vermeiden.«
Was, wenn er mir den Jungen zu nehmen versucht?
» Du wirst sicherstellen, dass der Junge längst tot ist, bevor
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