Das Wispern der Schatten - Roman
Junge und erwachsener Mann! Sieh mir ins Gesicht und präge es dir ein. Hab kein schlechtes Gewissen, wenn es mit der Zeit verblasst; erinnere dich nur daran, dass ich dich immer lieb haben und immer an dich denken werde, ganz gleich, was geschieht oder wo du bist.«
Sie umarmte und küsste ihn, bis er keine Luft mehr bekam, und sogar dann noch dachte er, dass sie ihn nicht loslassen würde. Am Ende zog sie sich zurück, wischte sich die Wangen ab und richtete sich auf. » Wenn sie kommen, solange du fort bist«, sagte sie zu Jed, » erzähle ich ihnen, dass er nicht aus der Schule nach Hause gekommen ist und dass du in die Stadt gegangen bist, um ihn zu suchen, weil du vermutest, dass er sich irgendwo mit der Tochter von Jacob, dem Händler, herumtreibt. Geht jetzt, ich muss die Betten neu beziehen und die Vorräte umstellen, damit es nicht so aussieht, als ob irgendetwas fehlt. Geht!«
Jillan starrte seine Mutter an und wollte nicht, dass dieser Blick der letzte war. Niemand war schöner als seine Mutter, nicht einmal Hella. Sie hatte Sorgenfalten um die Mundwinkel und haselnussbraune Augen, die dazu beitrugen, sie liebevoll und gütig wirken zu lassen. Sie klagte über weiße Haare in ihren langen, blonden Zöpfen, aber in Jillans Augen fingen sie das Licht ein wie Gold und Silber. Und dann war da noch der Blick, den sie nur Jillan allein schenkte, nie jemand anderem, nicht einmal seinem Vater, obwohl es auch für ihn einen ganz besonderen Blick gab.
Aber dann war die Haustür geschlossen, und seine Mutter war für ihn verloren. Er drehte sich um und sah nichts als Dunkelheit. Er wartete, bis seine Augen sich daran gewöhnt hatten, und folgte dann seinem Vater, der die ausgebeulte Tasche und Jillans Waffe schulterte.
» Du kannst dich allein auf den Beinen halten, oder?«, fragte Jed plötzlich.
» Ja, Vater, wenn wir zuerst langsam gehen können.«
Sie erreichten die Treppe zur Südmauer und begannen hinaufzusteigen.
» Wer da?«, rief Samnir von oben.
» Ich bin ’s!«, antwortete Jillan.
Eine Pause. » Jillan? Was treibst du um diese Zeit noch hier draußen?«
Jed und Jillan stiegen stumm hinauf, bis sie den Wehrgang erreichten. Die beiden Erwachsenen nickten sich argwöhnisch zu; dann sah Samnir Jillan an.
» Ich muss fort, Samnir. Ich stecke in Schwierigkeiten«, erklärte der Junge ohne Einleitung.
Samnir seufzte. » Ja, ich habe vorhin irgendein Getöse gehört, und alle möglichen Leute rennen wie aufgescheuchte Hühner hin und her. Weißt du, von hier oben entgeht mir nicht viel.«
Jillan fragte sich, ob Samnir in Wirklichkeit alles gesehen und gehört hatte. » Ich brauche deine Hilfe«, sagte er schlicht.
» Ja, und die habe ich dir versprochen, mein Junge, die habe ich dir versprochen. Du sollst meine Hilfe bekommen, und ich habe im Gegenzug schon deine großzügige Gesellschaft und Freundschaft erhalten. Aber meiner Meinung nach tut ein bisschen Aufregung der Stadt ohnehin gut. Rüttelt alle ein wenig auf und ruft ihnen ins Gedächtnis, dass sie noch am Leben sind, wenn du verstehst, was ich meine. Du wirst durch dieses Tor gehen, ohne dass irgendjemand etwas erfährt, obwohl ich dich nicht gern gehen sehe, mein Junge, wirklich nicht gern. Aber fort musst du, also folge mir.«
» Danke«, sagte Jed. » Du weißt nicht, was uns das bedeutet.«
Samnir blieb stehen und sah sich mit unergründlicher Miene nach ihm um. » Oh, ich weiß nur zu gut, was es bedeutet, Jäger Jedadiah. Aber lasst uns nicht länger darüber nachdenken, sonst vergeuden wir noch zu viel Zeit.«
Eine Minute später stemmten Samnir und Jed den schweren Riegel des Südtors hoch. Sie schwangen einen der Torflügel nach innen, bis ein Spalt geöffnet war, der breit genug war, dass Jillan sich hindurchzwängen konnte.
Jed ließ eine Hand auf Jillans Schulter ruhen und drehte ihn zu sich herum. » Sei tapfer, Jillan, denn du bist ein Mann, wie deine Mutter sagt. Sei dir gewiss, dass ich immer stolz auf dich sein werde, ganz gleich, was geschieht oder was du sagst und tust. Denk immer daran, dass mit dir alles in Ordnung ist und dass es Dinge gibt, die das Wissen und die Erfahrung des einfachen Volks von Gottesgabe und die schlichten Worte des Buches weit übersteigen. Vielleicht wirst du einige von ihnen entdecken und eine Art Abenteuer erleben. Ich kann dir kaum Ratschläge erteilen, was das Reich betrifft, mein Sohn, denn zu meiner großen Beschämung habe ich nur wenig davon gesehen. Aber dieses eine sage ich dir:
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