Das Wispern der Schatten - Roman
nicht mit dir Schritt halten können. Zu Pferde werden sie uns binnen weniger Stunden einholen.«
» Was also tun wir?«, fragte der hünenhafte Mann flehentlich.
» Es schmerzt mich unaussprechlich, mein Liebster, aber du und ich müssen hierbleiben.«
» Was? Wie? Er kann doch nicht allein in die Wälder gehen! Er ist noch ein Junge!«
» Wenn sie zu uns kommen und nach Jillan suchen«, beharrte Maria, » sind wir hier und warten besorgt darauf, dass er nach Hause kommt. Dann werden sie die ganze Nacht über die Stadt nach ihm durchsuchen, sodass Jillan Zeit haben wird zu entkommen. Es wäre für sie ganz unvorstellbar, dass ein Held ihn aus der Stadt lassen könnte, ohne es zu melden.«
» Der Heilige wird es erfahren!«
» Aber er wird nicht in der Lage sein, rechtzeitig herzukommen, um ihn an der Flucht zu hindern. Und wären wir denn als Eltern nicht bereit, allen Tadel zu erdulden, Liebster? Samnir hat sicher seine eigenen Gründe, uns zu helfen, Gründe, die wir zweifellos nicht einmal in Ansätzen erahnen können. Er war doch schon immer ein seltsamer Vogel.«
» Ich sollte bei meinem Jungen sein, um ihn zu beschützen!«, sagte Jed hilflos mit versagender Stimme und ließ die Schultern hängen.
» Du kannst ihn am besten beschützen, indem du ihn gehen lässt. Er ist fast volljährig, Mann, kein kleiner Junge mehr, das zeigen dir doch wohl diese Ereignisse deutlich! Also versuch nicht, ihn länger ein Kind bleiben zu lassen, sonst wird es ihm vielleicht noch zum Verhängnis«, erklärte Jillans Mutter mit fester Stimme. Je mehr sie Jed nachgeben sah, desto stärker wurde sie anscheinend. So zerbrechlich und klein sie im Vergleich zu seinem riesenhaften Vater zuweilen auch auf Jillan gewirkt hatte, nun war sie diejenige, die sich über Jed beugte und den Raum mit ihrer Gegenwart ausfüllte. Dann fuhr sie sanfter fort: » Jetzt ist Eile geboten, Liebster. Pack Jillans Sachen in einen Lederbeutel, während ich ein bisschen Proviant zusammenstelle. Schnell! Jillan, bist du stark genug, die Suppe allein aufzuessen?«
» Ja, Mutter.« Jillan nickte, und ihm kamen abermals die Tränen, da er wusste, dass es vielleicht das letzte Mal war, dass er die wunderbare Suppe seiner Mutter schmeckte. » Vater, denkst du bitte an meine Steine?«
Jeds Miene wurde schmerzerfüllt, und er wandte sich verlegen ab. » Natürlich, mein Sohn.«
Maria redete unablässig, während sie daranging, Dörrfleisch, Hartkäse und kleine Äpfel in ein Tuch zu stecken. » Jillan, geh nach Erlöserparadies. Dort lebt ein Mann, der deinen Vater und mich von früher kennt. Er nennt sich Thomas Eisenschuh, wenn er seinen Namen nicht geändert hat. Wiederhole mir seinen Namen so, dass ich es hören kann.«
» Thomas Eisenschuh.«
» Gut. Wenn er dich fragt, was du willst, sag ihm, dass du Freistatt suchst. Sag es.«
» Ich suche Freistatt. Aber was ist Freistatt?«
Maria maß ihn mit einem Blick. » Das weiß ich nicht, und es ist auch unwichtig. Thomas Eisenschuh wird dich entweder bei sich aufnehmen, bis dein Vater und ich nachkommen und zu dir stoßen können, oder er wird dich zu anderen guten Menschen schicken. Nein, unterbrich mich nicht! Jetzt zählt jede Sekunde. Du wirst durchs Südtor gehen und dann einen Bogen um die Stadt nach Norden schlagen. Folge der Straße, aber bleib ihr bei Tageslicht fern. Wandere durch die Wälder und behalte die Straße immer im Blick. Wenn du zufällig jemandem begegnest, dann bist du auf Pilgerfahrt nach Hyvans Kreuz, um im Tempel des Heiligen zu beten. Hast du verstanden?«
» Ja, Mutter«, antwortete Jillan, obwohl sie so schnell sprach, dass es ihm schwerfiel, ihr zu folgen.
» Fertig!«, verkündete Jed, ließ den Beutel auf den Tisch fallen und legte Jillans Bogen und Köcher daneben.
Maria schob das Essen gebündelt in den Lederbeutel. » Die Tasche ist schwer, und wenn du müde wirst, gerätst du vielleicht in Versuchung, etwas wegzuwerfen, aber tu es nicht. Die Dinge in deinem Gepäck halten dich in kalten Nächten am Leben. Leg dich nie auf den nackten Erdboden, da dir das die Wärme entzieht und du dann vielleicht nie wieder aufwa…« Die Stimme versagte ihr, und sie presste die Lippen zusammen, weil sie es nicht wagte fortzufahren.
» Es reicht, Maria«, sagte Jed leise. » Ich sage ihm unterwegs den Rest.«
Maria nickte und brachte einen zittrigen Atemzug zustande. Sie breitete die Arme aus und beugte sich vor. » Dann komm und gib deiner Mutter einen Abschiedskuss, kleiner
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