Das Wispern der Schatten - Roman
entwickeln, wo die Materie dick oder dünn war oder ganz fehlte. Bewegung und Klang, Begrenzung und Freiraum. Sie begann Unterschiede in der Dunkelheit wahrzunehmen, ohne dass sie sich erst hätte bewegen müssen. Sie fragte sich, was hinter den Lücken lag.
Sie bewegte sich frei durchs Dunkel zur größten Lücke. Plötzlich ertönte ein schreckliches Grollen, und der Schoß erbebte. Sie wich schnell zurück und kauerte sich verängstigt hin. Das Grollen setzte sich fort, wurde schließlich leiser und kam zum Erliegen. Sie beschloss, sich nicht wieder der Lücke zu nähern, aber dann hörte sie Rufe von der anderen Seite, Rufe wie in ihrer ersten Erinnerung. Vielleicht war jemand anders wie sie jenseits der Lücke.
Sie wartete. Die Rufe wurden leiser und seltener. Aus der Sorge heraus, dass sie ganz verschwinden und sie wieder allein lassen würden, wagte sie sich noch einmal näher an die Bresche heran. Diesmal ertönte kein Grollen. Sie ging hindurch und bewegte sich dann ins Leere dahinter, folgte den Rufen, jagte sie, bevor sie entkommen konnten.
» Wer da?«, keuchte eine Stimme.
Geräusche, die sie nicht verstand. Keine Bewegung und auch nicht direkt Schreie. Etwas anderes. Sie wandte sich hierhin und dorthin, versuchte, die Töne auszumachen.
» Ist da jemand? Hilf mir, bitte! Der Einsturz hat mich verschüttet! Ich kann mich kaum rühren. Bei den Hohen Herrschern, Hilfe!«
Das andere Sie schien im Festen zu stecken. Es konnte sich nicht so frei bewegen wie sie. Die Geräusche, die es hervorbrachte, waren unangenehm anzuhören, als ob es… Angst hätte. Es roch seltsam, aber nicht Furcht einflößend. Ihr lief vor Hunger das Wasser im Munde zusammen, aber sie war es nicht gewohnt, etwas zu essen, das sich bewegte. Und wenn sie es aß, würde sie wieder allein sein. Also zog sie das andere Sie stattdessen aus dem Festen.
» Aua! Pass doch auf! Danke, danke! Wer bist du? Wieso bist du so stark? Hast du Licht bei dir?«
Unverständliche Geräusche. Das andere Sie lag fast reglos da. Sie dachte an ihre erste Zeit zurück. So war sie auch einmal gewesen, hatte im Dunkeln gelegen. Sie hatte Dunkelheit gebraucht, die sie hatte essen können, die flüssige Sorte. Sie schöpfte sie aus einer Vertiefung in der Nähe und goss sie dem anderen in den Mund.
Ein Keuchen. » Danke, so ist es schon besser. Ich hatte solchen Durst!«
Eine körperliche Berührung. Sie ächzte und rückte unsicher ab.
» Oh! Das tut mir leid. Du hast den Aussatz, du arme Seele. Das wusste ich nicht. Mögen die Hohen Herrscher dich segnen. Und es macht mir wirklich nichts aus.« Eine Pause. » Ich heiße Norfred. Ich dachte, diesmal hätte es mich erwischt. Hätte es wahrscheinlich auch, wenn du nicht vorbeigekommen wärst. Weißt du, sie strengen sich nicht besonders an, die Alten wie mich zu finden.«
Das andere Sie war nicht so breit oder hart wie sie. Es war nicht dasselbe wie sie. Und es bewegte sich immer noch nicht viel. Sie stieß es an.
» He, was machst du denn da? Wenn man gerade einen Einsturz hinter sich hat, braucht man einen Augenblick, um sich zu erholen, findest du nicht? Für wen hältst du dich, für einen der Aufseher?«
Das andere hatte gezappelt und sie geschlagen. Erschrocken kauerte sie sich zusammen. Sie war es nicht gewohnt, etwas zu empfinden, was kein Hunger war. Sie wollte mehr. Sie kam zurück, stieß es erneut an und wartete auf den Schlag.
» Schon gut, schon gut! Die Ruchlosen finden keinen Frieden, was? Dann hilf mir auf.«
Das andere berührte sie an verschiedenen Stellen zugleich. Sie erstarrte, völlig überwältigt von der Empfindung. Hier! Das war Andersartigkeit! Unendliches Staunen jenseits des Schoßes! Sie wollte es ganz verschlingen, wollte ganz von ihm verschlungen werden. Es war alles, was sie wollte und je wollen konnte.
» Ist ja in Ordnung, mir geht es gut. Lass mich jetzt los! Hohe Herrscher, du bist ja schwerer als der Felssturz! Sachte, sachte! Aua!«
Das andere machte wieder die unangenehmen verängstigten Geräusche, also lockerte sie ihren Griff, ließ es aber nicht ganz los.
» Wir müssen hier lang, aber wir werden Unmengen von Stein bewegen müssen. Du kennst auch keinen anderen Weg in die Wohnhöhle, nicht wahr? Hab ich ’s mir doch gedacht. Dann fangen wir wohl besser an, solange wir noch bei Kräften sind, was? Wenn wir Glück haben, hören sie uns hier arbeiten und beginnen von der anderen Seite zu graben.«
Das andere kratzte schwach am Festen, wo es mit Stücken
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