Das Wispern der Schatten - Roman
ihm alles gnädig vor den Augen verschwimmen ließen, so dass die Welt etwas weniger schmutzig wirkte. » Und Hella?«, wagte er Samnir leise zu fragen.
Samnir nickte. » Was meinst du, wer mich am Leben erhalten hat? Igitt! Was stinkt denn hier so? Ich selbst! Komm, Jillan, mein Junge, bringen wir dich nach Hause und machen uns ein bisschen frisch. Wir sollten versuchen, vorzeigbar auszusehen, sonst lässt Hella uns gar nicht erst ins Haus, und dann kann ich mich nicht anständig bei ihr bedanken. Ich glaube, du musst mir aufhelfen. Ich bin steif wie ein P…äh…ein Brett. Sachte! Aua!«
Sie humpelten vom Versammlungsplatz zu Jillans altem Zuhause.
Unterwegs bemerkte Jillan, dass auf fast jede Tür im Südteil der Stadt ein großes weißes Kreuz, das Zeichen für die Pest, gemalt war. Die Türen und Fenster waren verrammelt, manche von außen. Es war niemand zu sehen, bis auf einen ausgemergelten Straßenköter, der etwas Rotes fraß und knurrte, als sie an ihm vorbeikamen.
» Wenigstens dringt noch Rauch aus dem einen oder anderen Schornstein«, sagte Samnir und hustete. » Sonst würde ich denken, dass wir über einen Friedhof gehen.«
» Zumindest haben die Heiden aus den Bergen sie in Ruhe gelassen.«
» Die Heiden fürchten sich zweifellos ebenfalls vor der Pest. Das hat wahrscheinlich einen Großteil der Vergewaltigungen, Plünderungen und Diebstähle verhindert, zu denen es sonst gekommen wäre.«
» Ich glaube nicht, dass Aspins Leute so sind.«
Samnir bedachte ihn mit einem matten Lächeln und zuckte die Achseln. Jillan bemerkte, dass sich der alte Soldat nun, da die Farbe wieder aus seinen Wangen wich, recht schwer auf ihn stützte und zu zittern begann.
» Wir haben es gleich geschafft. Da sind wir«, sagte Jillan, als sie sich unter die niedrigen, vorspringenden Dächer duckten und im Zickzack zwischen den alten Hütten, Regentonnen und Verschlägen nahe der Südmauer hindurchgingen. » Oh.«
Die Tür zu Jillans Haus hing verlassen von einer Angel und trug dort, wo die Helden, die gekommen waren, um seine Eltern festzunehmen, sie eingetreten hatten, sichtbare Narben. Schnee war ins Hausinnere geweht, und das Gebäude kam Jillan viel kleiner vor, als er es in Erinnerung hatte. Für eine oder zwei Sekunden war er überzeugt, dass sie sich im Gassenlabyrinth verlaufen hatten und zum falschen Haus gekommen waren. Die Oberseite seines Kopfes hatte nie so den Türsturz gestreift, und er hatte noch nie die Schulter leicht zur Seite wenden müssen, um sie sich nicht am Türrahmen zu stoßen. Und das da war doch sicher eine Spielzeugausgabe des großen, hölzernen Sessels seines Vaters? Nein, das hier war nicht sein Zuhause. Es war zu dunkel und beengt. Viel zu kalt, irgendwie kälter als draußen. Es war… zerbrochen. Er spürte einen Klumpen im Hals, und ihm wurde übel.
» Mach dir keine Sorgen, mein Junge. Wir bringen es binnen kürzester Zeit wieder in Ordnung, du wirst schon sehen. Schau mal, da drüben ist Holz gestapelt. Ich bekomme die Hütte schon warm. Geh du nach draußen und hol uns einen Eimer Wasser. Jillan! Komm, Junge, tu, was ich dir sage. Setz mich hier ab. Jetzt geh schon.«
Jillan blinzelte und stand dümmlich mit einem vollen Wassereimer vor Samnir. Er konnte sich nicht daran erinnern, nach draußen gegangen zu sein, um ihn zu holen, aber anscheinend hatte er es getan. Hatte er dazu eine Eisschicht durchbrechen müssen? Die Fingerknöchel einer seiner Hände wiesen brennende Schürfwunden auf.
» Füll den Kessel da, dann setzen wir ihn aufs Feuer. Aber gib mir erst einen Becher von dem kalten Zeug. Ich verdurste.« Samnir saß zusammengesunken auf dem Stuhl gleich neben dem Kamin; anscheinend hatte es ihm alles abverlangt, auch nur ein paar schwache Flammen zu entzünden.
Jillan tat wie geheißen und ging dann zu den Schränken, die größtenteils offen standen: Anscheinend waren ein paar seiner Nachbarn hier gewesen und hatten sich an den Wintervorräten seiner Mutter gütlich getan, bevor sie auch nur… Blind umschloss er mit den Händen ein paar trockene Brotkanten, die den Dieben entweder entgangen oder zu hart für ihre Zähne gewesen waren. Das Brot war von fahlem Schimmel bedeckt, aber es würde reichen müssen. Jillan tunkte die Stücke in Wasser, um sie aufzuweichen, spießte sie dann auf eine Röstgabel und lehnte sie neben den Kessel.
Er atmete, sah zu, wie das Brot dunkler und schließlich schwarz wurde. Es rauchte und knackte. Er sah es nicht mehr. Er ließ
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