Das Wispern der Schatten - Roman
seinen gemütlichen Sitzplatz am warmen Feuer verlassen? Niemand, denn das Vergessen lauerte gleich hinter der Tür. Die gewaltige, hungrige Dunkelheit des Abgrunds harrte dort der Unschuldigen und Unaufmerksamen.
Was uns zu der Frage führt, was genau du hier eigentlich tust, Dummkopf. Gib acht! Es sind noch mehr von diesen Kindern unterwegs, und sie kreisen dich ein, treiben dich, glaube ich, vor sich her. Meinst du, dass sie sich vielleicht aus Nahrungsmangel dem Kannibalismus ergeben haben? Ich wette, sie haben scharfe, spitze kleine Zähnchen.
» Einer meiner Freunde ist hier draußen«, erklärte Jillan. » Ich muss ihn finden. Was für ein Freund wäre ich sonst?«
Äh … ein lebendiger Freund? Du wärst ein lebendiger Freund. Ich bin sicher, dass dein Freund dich nicht mehr zum Freund haben wollte, wenn du tot wärst. Außerdem findet er sich wahrscheinlich auch allein zurecht.
» Ich wäre sogar schon tot, wenn er nicht gewesen wäre, und die Schuld muss ich begleichen. Es ist immer ein Preis zu zahlen, Makel.«
Ein stummes Keuchen. Wo hast du den Ausdruck gehört?, fragte der Makel mit zitternder Stimme, floh aber, bevor Jillan sich entschied, ob er antworten sollte oder nicht.
Jillan trat auf den großen Versammlungsplatz im Zentrum von Gottesgabe und ging zum Sitzungshaus hinüber. Er hatte das Tappen kleiner Füße hinter sich und auf beiden Seiten gehört, aber es war schlagartig verstummt, als er die enge Gasse verlassen hatte. Auf dem weitläufigen Platz gab es keine Deckung, die seine Verfolger hätten nutzen können, und ihnen fehlte offenbar der Mut, ihn auf der Freifläche anzugreifen.
» Hallo, mein Freund«, sagte Jillan, als er auf den angeketteten, sabbernden Samnir hinabblickte. Der früher immer gründlich rasierte Soldat hatte jetzt einen ungepflegten grauen Bart, der ihn weit älter wirken ließ, als Jillan ihn in Erinnerung hatte. Doch Samnir sah nicht so hager oder schmutzig aus, wie Jillan befürchtet hatte. Hatte jemand ihn gefüttert und gewaschen? Es lag auch eine gute Wolldecke neben ihm, die der Grund dafür sein musste, dass er noch nicht erfroren war.
» Ich bin hier, um dir deine Klinge zurückzubringen, Samnir, denn ich habe sie gut genutzt und brauche sie nun nicht mehr. Lass mal überlegen… Was hast du gesagt, als du sie mir damals gegeben hast? Ach ja: Sie wird dir freiwillig geschenkt, deshalb kannst du über sie gebieten.«
Jillan nutzte das Schwert, um die Ketten seines Freundes zu durchtrennen, und legte es ihm dann auf den Schoß. Er holte tief Atem und rief die Magie zu sich. Als der Sturm um ihn zu wirbeln und tosen begann, stieg zur Antwort die Macht aus seinem Innersten auf. » Nicht, um zu töten!«, hauchte Jillan und ließ sanft Kraft in seinen Freund einsickern.
Nach ein paar langen Augenblicken war Samnirs Körper völlig damit durchtränkt, und Funken überschüssiger Energie tanzten in der Luft um seine Haut herum, aber die Augen des Soldaten blieben leer. Was stimmte nicht? Noch mehr Magie würde den alten Krieger töten. Die Beschwörung war so anstrengend, dass Jillan zu zittern und zu schwitzen begann. Wenn ihm nicht bald eine Lösung einfiel, würde er sie vielleicht beide umbringen.
Der Makel seufzte. Ich kann doch nicht zulassen, dass du dich wegen solch einer albernen Sache umbringst, nicht wahr? Das Problem ist sein Verstand, nicht sein Körper.
Verstand? Verstand! Der Heilige hatte Samnirs Verstand von seinem Körper getrennt. Hastig ließ Jillan die Macht durch alte Verbindungen strömen, rettete, erneuerte und heilte, was er nur konnte. Dann brach er ab und ließ sich keuchend zurücksinken. Er betete, dass er genug getan hatte.
Er sah Samnir in die toten grauen Augen. War das ein Aufblitzen oder nur eine Spiegelung des fallenden Schnees? Dann ein langsames Blinzeln. Ein Funke von Leben und Intelligenz.
» Gelobt seien die Erl…die Götter!«, hauchte Jillan.
» Jillan!«, stieß Samnir heiser hervor. » Sieh dir nur an, was du für Ärger angerichtet hast! Ich habe nicht übel Lust, dich übers Knie zu legen.«
» Samnir!«, schrie Jillan begeistert und umarmte den alten Soldaten.
» Uff! Pass doch auf. Entweder bist du stärker, als du aussiehst, oder ich bin schwächer, als ich es sein sollte. Ich bin völlig erfroren, und Hämorrhoiden habe ich auch noch.«
Jillan spürte heiße Tränen auf den Wangen, aber es waren gute Tränen, Tränen, die ihm einen Teil des Kummers und Entsetzens aus den Augen wuschen, Tränen, die
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