Das Wispern der Schatten - Roman
spät war, bevor sie Gelegenheit hatte, sich ihm völlig anzupassen. Wenn der Parasit ihn erst richtig im Griff hatte, würde er ihn nicht mehr loswerden können. Er würde eine dauerhafte Verbindung mit ihm eingehen und an die Stelle seiner Haut treten. Er würde Wurzeln und Ranken in sein Herz und seinen Verstand schlagen und sein Herzblut und seine Gedanken durch den eigenen Organismus filtern, um sie mit schwarzen, schädlichen Stoffen und Giften anzufüllen. Sie würden beide miteinander verschmelzen, bis sie ein Fleisch waren. Er würde zur wandelnden Verderbtheit werden, zum Geschöpf des Chaos. Er würde das Tageslicht und das Reich scheuen und stattdessen in den Schatten auf eine Gelegenheit lauern, sich auf arglose oder unaufmerksame Reisende zu stürzen.
Die Vorstellung bereitete ihm große Angst, während er unbeholfen die Schnallen zu öffnen versuchte, mit denen die Rüstung befestigt war, aber sie wollte einfach nicht vor seinem inneren Auge verblassen. Er blinzelte heftig und bemerkte, dass der graue Himmel herabgesunken war, um die Straße mit Nebel zu verhüllen. Jillan war unvorbereitet mitten hineingeraten. Was sonst verbarg der Nebel noch? Schlich ihm etwas nach oder stürmte gar jetzt schon auf ihn zu? Vor ihm leuchtete etwas in grellem Rot. Es war immer noch ein Stück entfernt, kam aber schnell näher.
Jillan gab seine Versuche auf, die Rüstung abzulegen, hechtete zwischen die Bäume am Straßenrand und vergrub sich unter einer Schicht aus totem Laub. Er hielt still und wagte es kaum zu atmen, damit die Blätter ja nicht raschelten, während das keuchende Geschöpf aus dem Nebel hervorgeschossen kam. Es war riesig, und Speichelfäden flossen ihm im Laufen aus dem zähnebleckenden Mund. Seine Füße trafen so wuchtig auf den Boden, dass die Steinplatten der Straße Risse bekamen. Aber am schlimmsten war das blutrote Auge, das böse aus einer Hälfte seines Gesichts hervorsah: Es richtete sich hierhin und dorthin und löste den Nebel auf, wohin es auch blickte. Es lag eine Macht darin, die verhieß, alles zu vernichten, was es erspähte.
Jillan unterdrückte ein Keuchen, als er den heiligen Abgesandten aus seinem Traum wiedererkannte. Der Heilige in Jillans Gegend war der heilige Azual, und hieß es nicht, dass er nur ein Auge hätte? Jillan wusste, dass er sich seinem Herrscher auf Gnade und Ungnade hätte ergeben sollen, aber er hatte zu viel Angst, sich hervorzuwagen. Stattdessen schloss er die Augen, wandte das Gesicht ab und betete, dass er unbemerkt bleiben würde. Dann war der Heilige so schnell, wie er gekommen war, wieder verschwunden.
Jillan stand gerade auf, als in der Ferne Donnergrollen ertönte und vom Horizont widerhallte. Der Sturm kam näher. Er ließ sich wieder auf den Bauch fallen und hielt sich die Ohren zu. Die Erde bebte. Jetzt war das Gewitter über ihm. Dunkle Reiter galoppierten hinter dem Heiligen her die Straße entlang. Ein großer Trupp Helden, der seine Pferde bis aufs Äußerste antrieb, um seinen Herrn im Blick behalten zu können.
Mit tönenden Ohren stand Jillan schwankend auf. Weiter! Der heilige Azual und seine Helden waren auf dem Weg nach Gottesgabe. Es musste sich bereits herumgesprochen haben, was mit Jillan geschehen war. Und sie hatten nach dem Heiligen selbst geschickt, dem geweihten Vertreter der gesegneten Erlöser! Jillan erschauerte vor Entsetzen. Er steckte in gewaltigen Schwierigkeiten! Er würde der ewigen Verdammnis und Bestrafung anheimfallen.
Er wagte sich auf die Straße hinaus und begann zu laufen, doch seine Füße tappten nur müde. Er musste Gottesgabe so weit hinter sich lassen, wie er nur konnte. Als er auf den nebelglatten Steinplatten ausrutschte, streckte er die Arme aus, um seinen Sturz abzufangen, stauchte sich aber nur schmerzhaft die Handgelenke und schürfte sich dann doch Gesicht und Knie auf den Steinen auf.
Die Schmerzen waren entsetzlich, und er lag mit benommenem Kopf da, schluchzte ein paarmal und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Du wirst nicht weit kommen, wenn du gleich auf die Nase fällst, du Trottel! Es ist besser, wenn du dich jetzt ordentlich ausruhst und dann früh am Morgen wieder aufbrichst. Wenn du dir in diesem Dämmerlicht das Bein oder gleich das Genick brichst, kommst du nicht so bald nach Erlöserparadies, nicht wahr?
Jillan stemmte sich hoch, zuckte vor Schmerz zusammen und überprüfte, ob sich noch alles so bewegte, wie es sollte. Er begann, die Straße entlangzuhinken, und hielt
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