Das Wispern der Schatten - Roman
und brachte es nach mehreren holprigen Versuchen fertig, die Tür wieder zu verschließen. Dann konnte man hören, wie der dicke Mann an der Außenseite der Tür zusammensackte und auf dem Flur zu Boden glitt. Er begann laut zu schnarchen.
Jillan rannte zur Tür, hämmerte dagegen und schrie, aber das Schnarchen ging ununterbrochen weiter. Jillan rief und schrie um Hilfe, aber niemand kam. Er versuchte, den Sturm herabzubeschwören, um sich von ihm befreien zu lassen, aber er erhielt keine Antwort. Er versuchte es mit den stabilen Fensterläden, aber auch sie waren abgeschlossen. Am Ende gab er sich seiner Erschöpfung und seinen Tränen geschlagen und fiel auf den harten Holzboden. Jetzt würde der Heilige ihn gewiss zu fassen bekommen.
Kapitel 4
DOCH NUR SO, WIE ES ANDEREN GEFÄLLT
D er heilige Azual erreichte Gottesgabe mit den ersten Strahlen der Morgensonne. Er war die Nacht durchgelaufen und hatte seine Leibgarde weit hinter sich zurückgelassen. Er war kaum außer Atem, aber die Magie, die er am Vortag an sich gerafft hatte, war völlig aufgebraucht. Er würde sich neu vollsaugen müssen, bevor er weiterreisen konnte, hoffentlich mit der Magie dieses Tunichtguts. Wie hieß er doch gleich? Sein Name tauchte in den Gedanken so vieler Menschen in Gottesgabe auf, dass er sogar zu dieser Tageszeit leicht aufzuspüren war: Jillan.
» Öffnet die Tore!«, rief Azual zornig, ließ seinen Befehl in den Geist jedes Helden der Stadt dringen und riss so eine ganze Anzahl von ihnen aus dem Schlaf. Er würde ein ernstes, folgenreiches Wort mit dem Hauptmann hier reden und ein solches Exempel statuieren müssen, dass keiner der Helden je wieder schlafen würde.
Der Heilige versuchte, den Aufenthaltsort des Jungen zu ermitteln, aber er konnte nichts Genaues wahrnehmen. Azual war aufgrund von Jillans jugendlichem Alter und der Tatsache, dass der Junge noch nicht zu den Erlösern gezogen worden war, nicht direkt mit Jillans Verstand verbunden. Außerdem hatte er sich dabei verausgabt, mit solcher Geschwindigkeit durch die Nacht zu laufen, dass seine Sinne immer noch etwas abgestumpft waren. Fluch über die Helden– was brauchten sie so lange mit den Toren? Unvorstellbar, dass jemand wie Azual auf derart niedere Geschöpfe sollte warten müssen! Wenn er voller Energie gewesen wäre, wäre er einfach über die Tore gesprungen oder hätte ihre Flügel aus den Angeln gerissen, um es hinter sich zu bringen. So aber musste er lange Augenblicke dastehen, mit den Zähnen knirschen und mit den Fingerknöcheln durch die Augenklappe hindurch den brennenden Juckreiz in seiner Augenhöhle massieren.
Am Ende schwangen die großen, hölzernen Torflügel des nördlichen Stadttors nach innen. Zur selben Zeit begann irgendwo eine Glocke zu läuten, um das Volk auf die Ankunft seines Heiligen hinzuweisen. Azual fluchte abermals. Zweifelsohne würden die Leute in großer Zahl zusammenströmen, katzbuckeln und Kratzfüße machen, ihn anflehen, sie zu berühren und zu segnen und ihm ganz allgemein im Weg stehen und lästig fallen. Sie würden die Hände ausstrecken, ihn betasten und befingern. Bei den Erlösern, wie er sie und ihre belanglosen Sorgen, ihre geschmacklosen Geschenke und ihre erbärmlichen, kreischenden Kinder verabscheute!
Eine Gruppe von Helden schritt durchs Tor, um die Ankunft des Heiligen mit aller Ehrerbietung zu begehen und vor ihm zu salutieren. » Du!« Azual sah streng auf den Hauptmann von Gottesgabe hinab, der selbst kein kleiner Mann war. » Lass deine Männer eine Absperrung bilden, um das Volk zurückzuhalten. Ich will, dass der Prediger und die Stadtältesten sich unverzüglich auf dem Versammlungsplatz mit mir treffen. Sag ihnen, dass sie sich so beeilen sollen, dorthin zu kommen, als ob ihr Leben davon abhinge. Verstanden? Und unterwegs kannst du mir alles berichten, was hier während deiner Wache vorgefallen ist– und warum deine Männer in so erbärmlichem, trägem Zustand sind.«
Der Hauptmann schluckte und salutierte erneut. » Natürlich, Heiliger. Hier entlang, bitte. Ein Junge ist getötet worden. Wir suchen seitdem Tag und Nacht die Stadt und die umliegenden Wälder ab, aber bisher haben wir den Mörder, einen gewissen Jillan Jägersohn, noch nicht gefunden. Ich habe meine Männer geschunden, und viele von ihnen haben schon seit langer Zeit nicht mehr geschlafen.«
» Wie ist es dem Jungen dann gelungen, euch so lange zu entkommen? Vielleicht ist es gar nicht so schwer, deinen Männern zu
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