Das Wispern der Schatten - Roman
Mein Vater, H…Heiliger? Nun, er ist in die Stadt gegangen, um Vorräte zu kaufen.«
Azual seufzte nachsichtig. » Hat dein Vater dir nie erklärt, dass die gesegneten Erlöser und ihre Heiligen alles wissen?«
Sie schüttelte den Kopf, während die Tränen ihr ungehindert über die verhärmten Wangen zu strömen begannen.
» Ich weiß, dass er tot ist, Kind. Ich weiß, dass du die Leiche hast verschwinden lassen. Verstehst du, dass es eine Sünde und Ketzerei ist, einen Heiligen anzulügen?«
Ingrid begann nach Luft zu ringen und zu schluchzen. Ihre Stimme war nur noch ein Wimmern, als sie flehte: » Vergebt mir! Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Er hat gestunken, und es ist doch meine Aufgabe, die Zimmer sauber zu halten. Es tut mir leid, wenn ich etwas falsch gemacht habe.«
» Es mangelt mir nicht an Mitgefühl und Barmherzigkeit, mein Kind. Ich weiß, wie dein Vater dich misshandelt hat. Willst du wirklich meine Vergebung?«
» Ja, mehr als alles andere, Heiliger!«
Azual lächelte. » Gut. Dann wirst du mir alles erzählen, was du über den Jungen weißt.«
» Natürlich, Heiliger«, sagte sie ohne Zögern. » Ja. Er war es, der meinen Vater getötet hat. Er hat es getan! Allerdings…«
» Ich weiß, was Wacker zu tun versucht hat, Ingrid, aber erzähl es mir dennoch.«
» Mein Vater hat versucht, mit ihm zu schlafen, Heiliger, und dann hat Irkarl ihn getötet. Er ist gegangen, ohne die Rechnung zu bezahlen.«
» Irkarl, sagst du?«
» Ja, der Junge. Er hat gesagt, das wäre sein Name. Irkarl aus Heldenbach.«
» Ich verstehe. Fahr fort. In welche Richtung ist der Junge gegangen? Nach Erlöserparadies oder zurück nach Heldenbach?«
» Ich… ich weiß nicht, Heiliger. Es tut mir leid«, sagte sie aufrichtig zerknirscht.
» Nicht so schlimm. Sag mir, Ingrid, ist dir sonst noch etwas an Irkarl aufgefallen?«
Sie biss sich auf die Lippen. » Äh… er hat seltsame Lederkleidung getragen, wie eine Rüstung, über und über mit goldenen Mustern verziert, aber das ist alles, wirklich.«
Eine Rüstung mit goldenen Mustern. Warum kommt mir das so bekannt vor? » Was für Muster? Könntest du sie zeichnen, wenn es sein müsste?«
» Es tut mir leid, aber ich erinnere mich nicht so recht an sie. Sie waren… verwirrend, Heiliger. Seid bitte nicht böse!«
Azual schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln. » Aber was wird nun aus dir, Ingrid? Dieses Gasthaus allein zu führen, ist von einem Kind viel verlangt. Du hast niemanden, der dich beschützt. Vielleicht möchtest du lieber nach Erlöserparadies zurückkehren.«
Ingrid biss die Zähne zusammen. » Es hat mich ohnehin nie jemand vor meinem Vater beschützt, Heiliger. Ich habe das Gasthaus schon so gut wie geführt, als er noch am Leben war. Es ist mein Zuhause und alles, was ich habe. Bitte lasst mich bleiben!«
» Jetzt bittest du mich nach deiner Sünde und Blasphemie um einen Gefallen?« Azual seufzte. » Nun ja, ich könnte dich wohl zu den Erlösern ziehen, dann wäre es vielleicht schicklicher. Auf die Weise könntest du eine vermögende Erwachsene werden und am Markttag in eine der Städte gehen, um dir einen Mann zu suchen. Soll ich dir diesen Segen zuteilwerden lassen, Ingrid?«
» O ja, bitte, Heiliger! Ich werde versuchen, mich zu bessern, wirklich, das werde ich! Ich bete von nun an morgens und abends und achte darauf, immer den Erlösern zu danken, bevor ich etwas esse oder trinke.«
» Nun gut. Dann tu, was ich dir sage, Ingrid. Trink zunächst diese Phiole Wein. Halt dir die Nase zu, wenn es dir gegen den Geschmack hilft. Und krempel deinen Ärmel hoch. Es tut auch nicht weh.«
Jed hasste enge Räume, und seine bärenähnliche Größe ließ die meisten Zimmer eng wirken. Deshalb war er Jäger geworden– damit er die meiste Zeit draußen unter freiem Himmel sein konnte. Enge Räume sorgten dafür, dass er sich eingesperrt und wie in der Falle fühlte, als würde er in einer Schlinge oder einem Fangeisen sitzen. Er geriet in Panik und wurde wütend, wenn Maria nicht da war, um ihn mit ihren tröstenden Worten zu beruhigen. Als er noch jünger gewesen war, hatten seine Freunde ihn betrunken gemacht und in seiner Hochzeitsnacht in einen Holzschuppen gesperrt. Als er zu sich gekommen war und begriffen hatte, dass er eingeschlossen war, hatte er das Gefühl gehabt zu ersticken, und war in Raserei geraten, um sich zu befreien. Er hatte mit den Fäusten auf die Wände eingehämmert, ohne sich darum zu kümmern, dass er sich die
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